Gold und Stein
Nachmittagslicht. Die Sonne war nach Westen gewandert. Durch das offene Fenster klang das Gurren der Tauben sowie munteres Vogelgezwitscher herein. Neugierig hüpfte ein Sperling in dem dicht belaubten Apfelbaum umher, lockte zwei weitere Artgenossen an. Als wollten sie nachsehen, ob Agnes im Schlafgemach anzutreffen war, landeten sie auf dem Fenstersims und streckten die winzigen Köpfe herein. Auf leisen Sohlen schlich Gunda zum Fenster. Die Vögel zeigten keinerlei Scheu. Wahrscheinlich pflegte Agnes ihnen einige Brotkrumen anzubieten. Ach, wie vermisste sie das Mädchen! Sie war ihr als Einzige geblieben. Eine Bemerkung des alten Fröbel kam ihr in den Sinn. »Wer die Sprache der Vögel spricht, spricht die Sprache des Herzens«, hatte er gesagt. Gunda hatte ihre Tochter unterschätzt. »Auf, fliegt fort und sucht mir meine Agnes«, flüsterte sie den Sperlingen auf dem Fensterbrett zu und wedelte mit der Hand durch die Luft. Erschreckt flatterten die braunschwarz gefiederten Vögel auf, flüchteten sich in den Baum, hüpften zwischen den Ästen umher, um sich endlich in die Lüfte zu schwingen und davonzufliegen. Gunda sah ihnen nach, bis sie in der Ferne verschwanden.
Die mittägliche Leuchtkraft des Himmels war in ein spätnachmittägliches blasses Blauweiß übergegangen. Dunst hing in der Luft. Zeichen für einen Wetterwechsel. In der Ferne dräuten bereits die ersten Wolken. Die Schwalben zogen ihre Kreise dicht über den Zinnen der Stadt. Gunda verweilte am Fenster, von dem unstillbaren Wunsch beseelt, die Tochter möge spüren, wie innig sie sich zu ihr wünschte.
»Dachte ich es mir«, platzte Lores Stimme in ihre Gedanken. »Du stehst am Fenster und sehnst dich nach Agnes. Aber bevor du zu ihr kannst, musst du etwas essen, mein Kind.«
Um nicht wieder aufzubrausen, zählte Gunda still bis fünf und drehte sich langsam zu ihrer Mutter um. Erstaunlich leise war Lore zu ihr gelangt. Gewöhnlich stapfte sie trotz Lederschuhen laut über die Dielen, klapperte aufreizend mit den zahlreichen Ketten und Schachteln an ihrem Gürtel. In der Hand eine dampfende Schale Suppe, blickte sie Gunda mit einem gütigen Lächeln auf dem faltenreichen Gesicht entgegen. Behende stellte sie die Schale auf dem Tisch ab und trat zu ihr ans Fenster.
Die im Lauf ihres harten Lebens krumm gewordene Frau reichte Gunda kaum bis zur Schulter. Ihre recht stattliche Größe sowie die kräftige Gestalt hatte Gunda von ihrem Vater geerbt. Lore hob die knochige Hand und legte sie ihr tröstend auf die Wange. Aufmerksam wanderte ihr Blick über Gundas Gesicht. »Auch wenn du es nicht hören willst, Liebes«, sagte sie. »Griet hat recht: Du solltest Gott, dem Allmächtigen, danken, dass Agnes rechtzeitig aus Wehlau hinausgekommen ist. Du weißt, was es für uns Frauen heißt, wenn die Söldner in die Stadt einfallen.«
Lore kniff die schmalen Lippen zusammen und starrte in die Weite des Himmels. Im Gegenlicht zeichnete sich das feine Profil ihres Gesichts ab: die hohe Stirn, die lange, spitz auslaufende Nase, die knapp unterhalb der Wurzel den eigenartigen Höcker aufwies, sowie der markante Zug um das Kinn, auf dem sich die weiße Linie der Narbe deutlich abzeichnete. Dunkel erinnerte Gunda sich an ihre Kindheit im fernen Westfalen. Überall war Lore damals bewundert worden. Sogar ein Gedicht hatte ein Fahrender auf ihre Schönheit verfasst. Die Trauer über den grausigen Tod ihres geliebten Gemahls Ewald hatte Lores Gesichtszüge überraschenderweise nicht hart werden lassen. Gunda schien es gar, als gewänne sie mit jedem Lebensjahr an Schönheit dazu. Das musste an ihrer inneren Würde liegen. Trotz aller Bewunderung spürte Gunda erneut Wut in sich aufsteigen. Das alles gab Lore nicht das Recht, derart mit ihr zu reden. Mit einem Mal glaubte Gunda zu begreifen.
»Du hast es die ganze Zeit gewusst und kein Wort zu mir gesagt!«, brauste sie auf. »Wie konntest du mich nur so hintergehen? Ist dir klar, was Agnes’ Weggang für mich bedeutet? Du bist selbst eine Mutter und weißt, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Zum zweiten Mal in meinem Leben wird mir das Liebste vom Herzen gerissen, und du schaust wieder einmal tatenlos zu!«
Wütend ballte sie die Fäuste. Reglos stand Lore vor ihr, starrte zum Fenster hinaus. Auf dem Kranz der nahen Stadtmauer marschierten zwei Wachposten, die Piken drohend in der rechten, einen Schild in der linken Hand. Grimmig schauten sie unter den Helmen hervor. Ihre volle
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