Gold und Stein
Aufmerksamkeit galt dem Geschehen auf dem Gelände vor der Stadt.
»Das Schlimmste ist für dich, die eigene Schuld daran ertragen zu müssen«, stellte Lore ungerührt fest.
»Was willst du damit sagen? Wieso sollte ich schuld daran sein, dass Agnes verschwunden ist?«
»Mach dir nichts vor.« Langsam wandte sich die Mutter zu ihr um. Ihre Augen schimmerten feucht, die Lippen zitterten. »Du weißt genau: Hättest du dich anders verhalten, wäre Agnes noch hier.«
»Was fällt dir ein? Wer hat Agnes gehen lassen? Du warst doch diejenige, die ihr bei Morgengrauen in der Schankstube begegnet ist. Statt ihr Proviant für die Flucht zu bereiten, hättest du sie aufhalten müssen!«
Vor Zorn brüllte sie so laut, dass die Wachleute auf der Mauer nun doch aufmerksam wurden. Beschämt wandte sie sich ab und ging in die Stube hinein.
»Ist schon gut, Kind.« Lore kam ihr nach und legte ihr die Hand auf den Arm. »Als Mutter kann ich deine Gefühle nur zu gut nachvollziehen. Was denkst du, welche Vorwürfe ich mir gemacht habe, weil wir damals überhaupt aus Dortmund fortgegangen sind? Wie oft habe ich mich gefragt, warum wir dich nach Königsberg haben verheiraten wollen. Hätten dein Vater und ich Gernots Antrag abgelehnt, würde nicht nur mein lieber Ewald weiterhin in Frieden mit uns leben. Auch dir wäre all das schreckliche Unrecht nicht widerfahren. Alles in unserem Leben ist mit dem Tag unserer Abreise aus Dortmund anders gekommen, als wir es uns je erträumt haben. Dabei hätte es auch dort in Westfalen gute Verbindungen für dich gegeben.«
»Aber ich habe es doch selbst gewollt, Mutter!« Ehe Gunda ahnte, wie ihr geschah, entfuhr ihr ein Seufzer. Aufschluchzend schlang sie die Arme um Lore und spürte verwundert nasse Tränen über ihre Wangen rinnen. Heftig bebte ihr Leib vom Weinen. Es war, als gelte es, die nicht vergossenen Tränen der letzten siebzehn Jahre alle nachzuholen.
»Wir haben uns doch geliebt«, brachte sie schließlich stockend hervor und löste sich von Lore, wischte sich über die nassen Wangen. »Hättet ihr in die Verbindung nicht eingewilligt, dann wäre ich auch ohne euer Einverständnis mit …«
»Siehst du, mein Kind! Du hast das Gleiche erlebt, was deine Agnes jetzt bewogen hat, sich gegen dich zu entscheiden. Warum bringst du für ihre Liebe kein Verständnis auf?«
Mit einem Lächeln klatschte Lore in die Hände, faltete sie dicht vor dem Mund. Das Kinn auf die Fingerspitzen gestützt, sprach sie weiter: »Nimm es, wie es ist: Sie liebt diesen Laurenz Selege, und er liebt sie!«
»Aber, aber …«, stammelte Gunda.
»Da gibt es kein Aber, mein Liebes. Liebe ist das Schönste und Größte, was einem im Leben widerfahren kann. Das weißt du ebenso gut wie ich.«
»Nein!« Von neuem wurde Gunda wütend. »Agnes weiß doch gar nicht …«
»Das Mädchen ist siebzehn!«, fuhr Lore dazwischen. »Halte deine Tochter nicht für ein kleines Kind. Sie weiß, was sie tut. Darf ich dich daran erinnern, dass du bei deiner Verlobung damals im selben Alter …«
»Das war etwas ganz anderes! Ihr habt Gernot gut gekannt. Über viele Jahre hatte Vater bereits mit seinem Vater Geschäfte getätigt, war selbst mehr als einmal am Pregel, um direkt mit ihm zu verhandeln. Dieser Selege aber …«
»… ist ein guter Mensch, der sich dir nur zu gern ausführlicher vorgestellt hätte«, fiel Lore ihr abermals ins Wort. »Tag für Tag hat er bei uns vorgesprochen, hat während Agnes’ Fieber um sie gebangt und gezittert, ihr gar einen wertvollen Vogel zum Trost schicken lassen. Du aber hast ihn nicht einmal empfangen, hast ihm im Gegenteil mehrfach zu verstehen gegeben, wie wenig Wert du darauf legst, mehr von ihm zu erfahren.«
»Aus gutem Grund.«
»So?« Aufmerksam sah Lore zu ihr hoch. »Seit wann ist es ein guter Grund, sich allein aus falsch verstandener Mutterliebe dem Liebesglück seines Kindes zu verweigern? Wenn du der Verbindung zustimmst, verlierst du nicht deine Tochter, sondern gewinnst einen Sohn dazu.«
»Selege kann und will ich nicht in unsere Familie aufnehmen.«
»Was spricht gegen ihn?«
Lore schien tatsächlich nicht zu begreifen. Wusste sie tatsächlich nicht, wer Laurenz Selege war? Gunda rang mit sich, ob sie es ihr erzählen sollte. Es riss alte Wunden auf.
»Was hast du gegen den braven Burschen?«, bohrte Lore weiter. »Er ist ein angesehener Baumeister. Nach dem Umbau des Hauses der Steins direkt am Markt wird er demnächst für Böttchermeister Haude
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