Gold und Stein
schmunzeln, tat sie doch gerade dasselbe. Zugleich wusste sie, woran er dachte: an ihr Gespräch auf dem Weg nach Marienburg. Damals waren sie zu demselben Schluss gekommen wie jetzt auch Gunda: Geschehenes war geschehen. Man konnte es nicht mehr ungeschehen machen, sondern nur für die Zukunft daraus lernen.
»Danke«, sagte deshalb auch sie und beugte sich vor, um nach Gundas Hand zu greifen. »Wenn du verziehen hast, werden auch Caspar und ich verzeihen. Wir haben beide eine glückliche, liebevolle Kindheit erlebt. Das dürfen wir nicht zerstören. Künftig aber sollten wir alle füreinander da sein und uns an unserer Geschwisterliebe erfreuen. Das ist ein großes Geschenk.«
Befreit lächelte die Mutter sie an, sah zu Caspar und strich ihm mit der freien Hand über die Wange. Agnes überlief ein wohliger Schauer. Sie äugte zu Laurenz, strahlte ihn an. Auf einmal fühlte sie sich glücklich wie niemals zuvor. Sie wusste, mit Laurenz auf der einen sowie Gunda und Caspar auf der anderen Seite war sie stark genug, ihren leibhaftigen Vater endlich kennenzulernen.
15
A uf Caspars kräftiges Pochen rührte sich hinter der schweren Eichenholztür am Fischartschen Haus zunächst gar nichts. Endlich vernahmen sie das Schlurfen, das Annas Auftauchen ankündigte. Agnes zog den wollenen Umhang enger um die Schultern. Ihre Finger waren steifgefroren und wollten ihr kaum gehorchen. Es war ein langer Weg von der Löbenichter Krummen Grube bis zur Altstädter Langgasse unweit des Marktplatzes gewesen. Die Nacht hatte den Wind noch eisiger werden lassen. Eine unheimliche Stille lag über den menschenleeren Straßen. Die Flammen der Fackeln, die Caspar und Laurenz trugen, kämpften mühsam gegen das drohende Verlöschen an. Vielleicht war es diese Stimmung, die Agnes frösteln machte. Oder doch die Aufregung vor dem, was jetzt vor ihr lag. Sie äugte zu Gunda. Kerzengerade hielt sich die Mutter neben Caspar, das schmale Gesicht angespannt, zugleich aber von neuer Schönheit erfüllt. Der Stolz auf den wiedergefundenen Sohn sowie die Aussicht, endlich mit Gernot und Editha ins Reine zu kommen, verlieh ihren Augen Glanz. Auch Caspar wirkte auf einmal erwachsener. Agnes’ Blick wanderte zu Laurenz. Seine besonnene Reaktion auf Gundas Erzählung hatte sie wenig überrascht. Längst hatte er entschieden, auf Gedeih und Verderb an ihrer und Gundas Seite zu bleiben. Wie sehr sie ihn liebte! Als er ihren Blick auf sich spürte, drückte er ihr die Hand und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Im selben Moment öffnete die alte Anna die Tür. Auf ihrem faltigen Gesicht war keinerlei Erstaunen zu erkennen, als sie die Gruppe vor sich sah. Knapp erwiderte sie den Gruß, strich Caspar sacht über die Wange, nickte Gunda, Laurenz sowie Agnes zu und schlurfte davon, um ihrer Herrschaft Meldung zu erstatten. Rasch traten sie hinter ihr in die Diele und schlossen die Tür, um den eisigen Oktoberwind außen vor zu lassen.
In der riesigen Diele war es jedoch kaum wärmer als draußen. Der Atem bildete Wolken vor den Mündern. Caspar und Laurenz steckten die Fackeln in die Halterungen an der Wand. Sogleich warfen die Flammen tanzende Schatten an das Deckengewölbe. Ohne die Ablader und Schreiber wirkte der weitläufige Raum unheimlich. An der Wand waren Fässer mannshoch gestapelt. Ein leeres Fuhrwerk stand verlassen im Durchgang. Es roch modrig.
Agnes rückte nah an Gunda, Laurenz und Caspar und behielt den oberen Treppenabsatz im Blick. Bald erschien dort ein Mann mittleren Alters mit ähnlich dürren Beinen wie Caspar, aber einem weitaus fülligeren Leib sowie einem massigen Kopf auf kurzem Hals. Das musste Gernot sein. Agnes beobachtete, wie er gemessenen Schrittes die Treppen herunterstieg. Die Kerze in seiner Hand tauchte das Gesicht in ein gespenstisches Licht. Viel mehr als eine breite Nase, einen flammend rot gefärbten Bart sowie leicht aus den Höhlen hervorspringenden Augen war zunächst nicht zu erkennen. Sein Gebaren wirkte sehr behäbig. »Caspar, mein Sohn!«, rief er und eilte auf ihren Bruder zu. Freudig umarmte er ihn und klopfte ihm kräftig auf die Schulter.
»Du ahnst nicht, wie überrascht ich war, dich bei meiner Rückkehr heute Nachmittag nicht zu Hause anzutreffen. Dabei hast du mir noch im Frühjahr entschlossen erklärt, du wolltest die Stadt bis auf weiteres nicht verlassen. Ich hoffe, der kurze Ausflug hat dich eines Besseren belehrt und deine Reiselust geweckt. Ein Kaufmann muss raus in die Welt, je eher, desto
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