Gold und Stein
die Stelle mit der rauhen Haut im Nacken. Schwer rang sie nach Atem, versuchte ein zweites Mal, sich Gehör zu verschaffen. Dieses Mal gelang es ihr besser. »Ist etwas mit den Kleinen? Nun sagt schon! Einen Grund muss es doch geben, dass ihr euch so viel Zeit lasst. Mutter, du weißt, was ich in den letzten Monaten durchlitten habe. Nachts haben mich die schrecklichsten Träume geplagt, tagsüber hat mich der gewaltige Leib zur Tatenlosigkeit verdammt. Bei zwei quirligen Kindern und einem so großen Haushalt war das kaum auszuhalten! Noch dazu, wo Laurenz seit Wochen in Marienwerder ist. Kaum erreichen mich Nachrichten von dort. Ein Wunder, dass ich es überhaupt noch einmal bis zur Niederkunft ausgehalten habe. Aber ich schwöre euch: Das ist das letzte Mal! Auch wenn ich erst achtundzwanzig bin, so will ich kein weiteres Kind mehr empfangen.«
»Das sagst du jedes Mal, Liebes. Doch vertrau mir, in wenigen Wochen denkst du wieder ganz anders darüber.« Strahlend vor Glück kam die Mutter auf sie zu. Vor der Brust wiegte sie ein helles Bündel. Agnes’ Herzschlag beschleunigte sich, hastig strich sie die Strähnen ihres braunen Haars aus dem Gesicht. Gunda beugte sich herunter und legte ihr den winzigen Menschen in den Arm. Aus dunklen Augen schaute das Kleine sie an, riss den Mund auf und wackelte mit dem Kopf. »Nun mach schon, enttäusche den kleinen Mann nicht und leg ihn an die Brust!«
Geschickt half die Mutter ihr, den Busen zu entblößen und den gierig nach der Brustwarze schnappenden Mund des Säuglings darum zu schließen. Nach hektischen ersten Schlucken saugte er bald gleichmäßig. Eine seltsame Ruhe breitete sich in der Stube aus. Zart strich Agnes dem Kleinen über die Wange, spürte die samtige, weiche Haut. Auf einen Schlag war sämtliche Unbill der letzten Monate aus ihrem Gedächtnis getilgt.
»Das reicht!«, erklärte die Hebamme Maria Gutloff. Erstaunt drehte Agnes den Kopf und sah die Grauhaarige an. An ihrem linken Nasenflügel prangte eine rotgeäderte Warze, ansonsten war ihre Haut trotz des fortgeschrittenen Alters glatt und ohne Makel. Gütig sah sie Agnes aus ihren grauen Augen an. »Über dem Glück, Euren frischgeborenen Sohn in Armen zu halten, achtet Ihr wohl auf nichts anderes mehr. Hier ist noch ein weiteres hungriges Mäulchen zu füttern. Denkt künftig immer daran, den Ersten rechtzeitig abzusetzen, sonst reicht Eure Milch nicht für beide Kinder.«
Gunda saß auf der Bettkante und nahm den Kleinen entgegen. Als Agnes ihn mit den Augen verfolgte, entfuhr ihr ein leiser Aufschrei. »Das Mal! Mutter, sieh nur, er hat dasselbe Mal im Nacken wie Caspar und ich.«
Kaum konnte sie abwarten, bis die Gutloff ihr das Mädchen reichte. Mit zittrigen Fingern drehte sie das winzige Köpfchen, besah sich aufgeregt den Hals der Kleinen. »Sie hat es auch!«
Tränen verschleierten ihr den Blick. Während die Hebamme ihr das Mädchen an die zweite Brust legte, tastete sie nach der Hand ihrer Mutter. Gunda umschloss sie fest mit ihren langen, schlanken Fingern.
»Eben schon habe ich deiner Hebamme erklärt, dass mich jeder einzelne Augenblick deiner Niederkunft an die Geburt von dir und deinem Bruder erinnert. Ebenso wie du war auch ich damals völlig überrascht, dass die Wehen nach der Ankunft des ersten Kindes weitergingen, dass der Bauch nicht wesentlich dünner geworden war. Damals aber waren weder meine Mutter noch ich oder meine Hebamme auf die Geburt von Zwillingen vorbereitet. Bei dir gab es seit einigen Tagen zumindest schon die schwache Ahnung, dass dir das bevorstehen könnte. Was wird Caspar sagen, wenn er davon erfährt, dass du Zwillinge geboren hast!«
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie senkte das Antlitz, wischte sich beschämt die Augenwinkel. Auch Agnes erfasste ein Anflug von Trauer.
»Es wird nicht leicht für ihn sein, Mutter. Ein halbes Jahr ist es erst her, dass seine liebe Carla bei der Niederkunft gestorben ist. Welch großes Unglück! Und die beiden hatten sich so auf das Kind gefreut. Nach all den Fehlgeburten schien es ein Wunder, dass sie es so lange im Leib trug und lebend gebar. Nun hat er Frau und Kind verloren.«
»Wie schlimm auch für ihren Vater, den guten Meister Jagusch. Erst ist ihm die Frau in jungen Jahren schon im Kindbett gestorben, dann auch die Tochter. Dabei hat er bei Carlas Hochzeit mit Caspar so darauf gehofft, eines Tages eine große Enkelschar um sich zu versammeln.« Versonnen streichelte Gunda das Köpfchen des Kindes an
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