Gold
Teppich war grau. Sophie schlief in Kates Armen, sie trug ihren schwarzen Star Wars- Pyjama. Im Flur waren Schritte zu hören. Immer wenn sie sich näherten, schauten alle zur Tür. Wenn die Schritte verklangen, blickten sie wieder zu Boden. Die Klimaanlage klapperte. Es gab noch einen vierten Stuhl im Raum, dort würde der Arzt sitzen.
Die Wände schienen sich aufzublähen, dann wieder zu schrumpfen. Die Zeiger der Uhr sprangen vorwärts wie von einer plötzlichen Windböe getrieben und blieben dann eine Weile reglos stehen. Der Raum trieb in der Zeit dahin. Die Dolmetscherin rang die Hände.
Als die Tür aufging, zuckte Kate zusammen.
Der Arzt knöpfte den weißen Kittel auf. Er setzte sich. Stützte eine Hand aufs Knie, schaute in seine Notizen und blickte auf. Er sprach lange mit ihnen. Dann verstummte er und sah die Dolmetscherin an. Sie hatte ein Wörterbuch mitgebracht. Blätterte darin. Dann sah sie Kate an.
Sie sagte: »Ihre Tochter hat Leukämie.«
»Sie hat was?«
Die Dolmetscherin überprüfte noch einmal die Übersetzung, deutete mit dem Finger auf das Wort und zeigte es Kate. »Leu-kä-mie«, sagte sie. »Sie sind so unglücklich wie ein Mensch von zehntausend. Jetzt müssen Sie sofort mit der bösen Medizin anfangen.«
Beinahe vier Jahre später zählte Kate am Küchentisch die Tabletten ihrer Tochter in den silbernen Pokal. Schon jetzt spürte sie, wie das Adrenalin ihre Gesten schärfte und sie sich nur noch auf das Rennen gegen Zoe konzentrieren konnte. Sie zählte die sechzehn Tabletten wie alte Freunde ab. Wenn Sophie sie genommen hatte, würde nur noch eine schlaflose Nacht zwischen ihr und dem Rennen liegen, das ihr letztes sein konnte.
Nationales Radsportzentrum, Stuart Street, Manchester
Am Nachmittag schob Tom die Räder seiner Mädchen aus der Werkstatt nach oben und befestigte sie in Ständern in der Mitte des Velodroms. Eine Jugendmannschaft trainierte auf der Bahn, die Anweisungen des Trainers hallten durch das ansonsten verlassene Gebäude. Tom ließ das Geschehen wie in weiter Ferne um sich kreisen, während er sich auf die Vorbereitungen konzentrierte.
Er drehte die Räder, überprüfte Ausrichtung und Justierung und ob der Mechaniker für jede Fahrerin die richtige Übersetzung angebracht hatte. Er überzeugte sich davon, dass die Reifen neu und korrekt aufgepumpt waren. Eigentlich musste sich der Mechaniker am nächsten Morgen darum kümmern, doch Tom wollte verhindern, dass defekte Teile zu spät entdeckt wurden.
Als er fertig war, stellte er sich zwischen die beiden Räder, jeweils eine Hand locker um den Lenker gelegt. Es war, als ginge etwas von den Fahrerinnen auf ihn über. Zoes Rad war größer, der Rahmen zwei Zoll höher und der Reach drei Zoll länger als bei Kate. Sie fuhr mit einer größeren Übersetzung und nutzte die Hebelwirkung ihrer langen Beine, um die Pedale zu bewegen. Kates Rad war kompakter, mit einer geringeren Übersetzung, und sie trat so schnell, bis ihre Beine fürs Auge verschwammen. Sie glich ihren relativen Kraftmangel durch eine phänomenale Arbeitsleistung aus. Kates Rad war in schlichtem Weiß gehalten, und vom Oberrohr lächelte Sophie in Passfotogröße unter dem Klarlack hervor. Die Griffe waren mit hellrosa Lenkerband umwickelt, das sich elastisch und warm anfühlte. Zoes Rad war nicht farbig lackiert, die funktionelle dunkle Carbonfaser blieb unter der matten Beschichtung sichtbar. Ihre Griffe waren mit schwarzem Gummi versehen. Auf beiden Seiten des Sattelrohrs – damit ihre Gegnerinnen es von links und rechts erkennen konnten – prangte in großen Goldbuchstaben und altenglischer Schrift das Wort UNBESIEGT. Während Kates Rad darauf angelegt war, dass sie sich im Cockpit wohlfühlte, wollte Zoes einschüchtern.
Die beiden Räder zu berühren, die so exakt auf ihre Fahrerinnen abgestimmt waren, war ebenso intim wie eine körperliche Berührung; diese Räder hatten ihre Fahrerinnen – die beiden Frauen, die ihm am meisten bedeuteten – bis an die Schmerzgrenze und manchmal auch darüber hinaus, bis an den emotionalen Bruchpunkt getragen. Tom umklammerte die Griffe und kämpfte mit seinen Gefühlen. Nach morgen früh würde eines dieser Räder nie wieder gefahren werden. Um ein Uhr mittags würde er eine dieser Rennmaschinen wieder in die Werkstatt des Verbands schieben, während die Verliererin ihre als Souvenir mit nach Hause nehmen würde. Sie würde ein paar Monate bei ihr im Flur stehen und dann schließlich, wenn sich
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