Gold
ruhigeren Gegend ziehen können, beschlossen aber, in dieser ganz gewöhnlichen Straße in der Nähe des Velodroms zu bleiben. Sie wollten im wirklichen Leben verwurzelt bleiben, stellten einen Plastiktraktor, einen Sandkasten und ein winziges Trampolin in ihren Garten. Im März 2005 feierten sie Sophies ersten Geburtstag. Es war nicht der Tag ihrer Geburt, sondern der, an dem sie sie gemeinsam aus dem Krankenhaus geholt hatten. Jacks Vater betrank sich, nahm die Sauerstoffmaske ab, die er mittlerweile brauchte, und sagte keuchend zu Kate: »Mal ehrlich, jetzt wo ihr eine Familie seid, ist es sowieso besser, wenn du diesen ganzen Fahrradquatsch vergisst. Die Zeitungen schreiben nur über Rennfahrerinnen, weil ihr in euren Anzügen so heiß ausseht. Wir wollen nicht, dass die Mama unserer Enkelin so angeglotzt wird.«
Sie musste lachen und freute sich, dass Robert sie als Sophies Mama bezeichnet hatte, fuhr am nächsten Tag aber über zweihundert Kilometer. Sie ließ Sophie bei Jack und startete noch vor Anbruch der Dämmerung auf ihrem Trainingsrad. Am Ende der Barrington Street bog sie nach rechts ab, fuhr hundertzehn Kilometer bis Colwyn Bay, kaufte eine Tüte Pommes und aß sie mit Blick auf die Irische See. Sie war in diesem Nieselregen der einzige Mensch am Strand. Sie kam völlig fertig nach Hause, ging unter die Dusche, machte das Abendessen für Sophie, setzte Jacks Eltern in den Bus nach Edinburgh und rief Tom an, um ihm zu sagen, dass sie wieder bereit fürs Training war.
Mit Toms und Daves Hilfe unterteilten sie den Tag in vier Blöcke zu je vier Stunden. Sechs bis zehn, zehn bis zwei, zwei bis sechs und sechs bis zehn. Jeder von ihnen absolvierte zwei Trainings-und zwei Elternblöcke. Danach schliefen sie acht Stunden, und dann ging es von vorn los, drei Monate lang, jeden Tag, ohne Diskussion.
Als Jacks Vater starb, wurde die Routine für eine Woche unterbrochen. Am Grab standen sie Hand in Hand unter einem Regenschirm und sahen zu, wie der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Es gab ein Gesteck aus weißen Nelken, die das Wort DAD formten. Die Totengräber hatten es vom Sargdeckel genommen und ins Gras gelegt, wo es vom Regen durchweicht wurde. Kate fragte sich, ob man erwartete, dass sie es mit nach Manchester nahmen. Sollten sie es in seine Bestandteile zerlegen und die Nelken in eine Vase stellen? Oder sollte das Gesteck intakt bleiben und auf der Fensterbank in der Küche liegen, bis sie es mit Anstand entsorgen konnten? In Friedenszeiten gab es dafür keine nützliche Verwendung. Als ihr eigener Vater starb, wäre Kate nicht auf die Idee gekommen, irgendetwas in Blumen zu schreiben. Nun fragte sie sich, ob sie ihn zu sehr oder nicht genug geliebt hatte.
Sie drückte Jacks Hand. »Wie fühlst du dich?«
»Keine Ahnung. Frag mich nach Peking.«
»Das sind noch drei Jahre.«
Er zog die Nase hoch. »Drei Jahre und zwei Monate. Reden wir darüber, wenn wir beide eine Goldmedaille um den Hals tragen.«
Sie steigerten das Training, bis es eine Eigendynamik entwickelte. Der Kühlschrank war mit Energiedrinks und Plastikdosen mit Kindernahrung vollgestopft. Die Routine war endlos. Der Boden der Dusche nie trocken. Kind versorgen, trainieren, duschen, Kind versorgen, trainieren, duschen. Schlafen. Von vorn. Der Sonntag diente der Erholung. Da wuschen sie die Trikots und froren Nudelsoße in Dosen ein, die mit den Wochentagen beschriftet waren.
Im Herbst 2005 erlebte Kate ihr Comeback bei der nationalen Meisterschaft. Die Logistik war schwieriger als das eigentliche Rennen. Sie und Jack mussten Vorläufe, Abwärmen, Hydratisierung, Ernährung, Finale, Siegerehrung und Sophie unter einen Hut bringen. Die Leute vom Verband waren wunderbar. Am letzten Tag, an dem der Konkurrenzdruck seinen Höhepunkt erreichte, kümmerte sich eines der Mädchen um Sophie. Sie lief mit ihr auf der Hüfte durch den Technikbereich des Velodroms, während Kate den Zeitungen lachend erklärte, ihre Tochter sei das einzige Kleinkind in Großbritannien mit persönlicher Trainerin. Sie küsste Jack. Sie war vollkommen glücklich.
Sie gewann die Einzelverfolgung, das Zeitfahren über fünfhundert Meter und den Sprint. Sie schlug Zoe in allen Finalläufen. Auch Jack gewann seine Rennen, aber Kate schaffte es am nächsten Tag auf die Titelseiten. Kates Goldenes Comeback, dazu ein Foto auf dem Podest. Im einen Arm Blumen, im anderen Sophie. Sophie blinzelte in die Blitzlichter wie eine Fledermaus, die man gerade aufgeweckt hatte. Sie
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