Gold
fernhalten. Sophie saß zwischen ihnen und schaute Zeichentrickfilme. Kate sah zu Jack hinüber. Es war Monate her, dass sie zuletzt im Wachzustand so viel Zeit mit ihrem Ehemann verbracht hatte, und sie erkannte plötzlich, dass er schöner war als zu Beginn ihrer Beziehung, stärker. Ruhig und gelassen saß er in seinem himmelblauen Kapuzenpullover da. Sein Haar wurde an den Schläfen ein bisschen grau. Er lächelte. Ein Schauer überlief sie. Sie griff nach seiner Hand.
Als die Flugbegleiterin eine Mahlzeit brachte, lehnten Kate und Jack ab. Sie war in ihrem Ernährungsplan nicht vorgesehen, und auch Sophie war nicht hungrig. Als sie mit ihrem Kopf auf dem Klapptisch einschlief, bemerkte Kate einen großen, schwarz-violetten Fleck an ihrem Nacken, der irgendwie aggressiv aussah. Sie fragte Jack, wie das passiert sei, doch er wusste von nichts. Typisch – so etwas fiel ihm gar nicht auf.
In den Rückenlehnen gab es kleine Bildschirme, auf denen man ihr Flugzeug über eine Landkarte fliegen sah. Sie beugte sich über Sophie hinweg und küsste Jack in zwölftausend Metern Höhe über der zentralasiatischen Steppe. Bevor sie einschlief, hatte Sophie mit den Buntstiften, die sie bekommen hatte, ein Bild gezeichnet. Kate zog es unter ihrem Kopf hervor. Ein hübsches Bild. Hoch auf einem Ast kuschelte sich eine Baby-Eule zwischen ihre Eulen-Eltern. Die Papa-Eule war blau, die Mama-Eule rosa, und die Baby-Eule trug ein Lichtschwert. Doch Kate achtete kaum auf das Bild. Sie sah das Velodrom in Peking vor sich. Tom hatte ihr Videos davon gezeigt und ihr folgende Übung für den Flug aufgegeben: Visualisiere den Sieg. Stelle ihn dir in jeder Einzelheit vor. Jeden Quadratzentimeter der Halle.
Sophie verschlief den gesamten Flug. Damit hatte Kate nicht gerechnet. Sie hatte Spielsachen und Bücher mitgebracht und für Notfälle auch Gummibärchen. Sechs Tüten. Aber Sophie schlief einfach nur. Als sie landeten, musste Kate sie wecken. Sie war verwirrt und wütend wie ein kleines Tier, das beim Tierarzt aus der Narkose erwacht. An der Stirn hatte sie einen neuen Fleck, dort, wo sie auf einem Buntstift gelegen hatte. Doch Kate sah den Fleck nicht, sie stellte sich den Sieg vor.
Sie konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich in China waren. Es war, als landeten sie auf dem Mars. Sophies neuer Fleck verblasste nicht, während sie Zoll und Einreisekontrolle passierten, aber Kate dachte: Ist ja nur ein blauer Fleck. In ihren Armen schlief Sophie wieder ein, und sie hielt sie so, dass sie von ihr weg atmete. Man trainierte nicht zwanzig Jahre lang, um sich vor dem großen Ereignis eine Erkältung zu holen.
Ein Wagen holte sie ab, und während sie quer durch die Stadt fuhren, schlief Sophie auf ihrem Schoß. Vor dem Hotel, in dem das Team des britischen Radsportverbandes abgestiegen war, hob Jack Sophie aus dem Wagen. Seine Finger hinterließen blaue Flecken auf ihren Armen. Nun endlich merkten sie etwas.
Die zwei Wochen in Peking waren nur eine verschwommene Erinnerung. Sophie pendelte zwischen Krankenhaus und Hotel hin und her. Es war kompliziert. Die Ärzte dachten an eine Lungeninfektion. Dann an ein Nierenproblem. Sie hatte erhöhte Temperatur. Das IOC stellte ihnen eine Dolmetscherin zur Verfügung. Die Dolmetscherin hatte das Fachvokabular für achtundzwanzig Sportarten gelernt, nicht aber für Medizin, und so konnte Kate nur schwer beurteilen, wie ernst die Sache war. Die Ärzte redeten mit ihnen, es waren endlos lange Sätze. Danach berührte die Dolmetscherin sie am Arm, machte ein trauriges Gesicht und lieferte eine kurze Übersetzung. Doktor sagt, Ihr Kind ist ziemlich krank. Die Ärzte schauten die Dolmetscherin an, während sie übersetzte. Kate konnte ihre Mienen nicht deuten.
Sie und Jack trainierten abwechselnd im olympischen Velodrom, während der andere bei Sophie im Krankenhaus blieb. Wenn sie nicht trainierten, saßen sie mit Sophie im Hotelzimmer. Kate konnte kaum schlafen. Sie erwachte und ging trainieren. Oder sie erwachte und weinte. Beim Aufwachen fühlte sie sich zu schwach zum Radfahren und sah Zoe im Velodrom stärker werden.
Es gab weitere Untersuchungen. Die Dolmetscherin ging wieder mit ihnen ins Krankenhaus. Sie saßen in einem kleinen fensterlosen Raum und warteten auf den Arzt. Es gab einen runden Tisch mit weißer Kunststoffplatte und Kaffeeringen. Eine weiße Plastikvase mit blassen Blumen. Halogenleuchten. Ein Bild in einem Plastikrahmen, auf dem ein weißes Pferd zu sehen war. Der
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