Gold
Mädchen. Es wird besser. Wenn du müde bist, heißt das nur, dass die Chemo wirkt. Wir hatten jetzt vier Behandlungen in dieser Runde, oder? Dein Körper merkt, dass es dir besser geht.«
Sophie verdrehte die Augen.
Jack lächelte. Wenn ihn seine Tochter ansah, als wäre er krank, wirkte sie eine Sekunde lang wie ein normales, gesundes Mädchen.
»Sophie?«
»Was?«
»Selbst wenn du mich total bescheuert findest, bin ich immer noch dein Dad, okay?« Er drückte ihre Schultern. »Wir besiegen die Krankheit gemeinsam. Wir müssen kühn sein.«
»Ich bleibe stark.«
»Du musst auch kühn bleiben.«
»Was ist denn der Unterschied?«
»Sophie Argall, kühn ist man, wenn man vor einem Erschießungskommando steht und die Augenbinde ablehnt.«
»Wieso?«
»Damit man bis zur letzten Sekunde nach einem Ausweg suchen kann. Der Befehlshaber fragt dich, ob du einen letzten Wunsch hast, und du antwortest: ›Ja, geben Sie mir eine Zigarette.‹ Die rauchst du so langsam wie möglich und schaust dich derweil nach einem Fluchtweg um und findest einen. Das ist Kühnheit.«
»Das ist Rauchen.«
»Ja, aber du weißt, was ich meine.«
»Davon bekommt man Krebs. Sagt Dr. Hewitt.«
Jack grinste. »Baby, du kannst Dr. Hewitt von mir ausrichten, wenn ich dich jemals beim Rauchen erwische und du nicht gerade vor einem Erschießungskommando stehst, erschieße ich dich eigenhändig.«
Sophie schaute ihn geduldig an. Jack spürte, wie ihre Müdigkeit in seinen Körper kroch.
»Oh, Schätzchen. Ich sage das doch nur, weil ich dich liebe, nicht weil ich sehen will, wie du von Kugeln durchlöchert wirst. Das gehört zu meinem Job als Dad, okay? Aus demselben Grund bin ich auch so streng, was das Schlafengehen und Zähneputzen betrifft. Immer kühn sein. Verstanden?«
Er bekam keine Antwort. Jack sah zu, wie Sophie den Kopf neigte. Ihre Miene war undurchdringlich.
»Was ist los?«
»Bist du dir auch mal nicht sicher, Dad?«
»Ich? Nein, ich bin mir immer sicher.«
»Du hörst dich immer so sicher an.«
»Na ja, weil ich mir sicher bin.«
»Dad?«
»Ja?«
Sophie schloss die Augen. »Nichts.« Sie schluckte wieder. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Geht es dir schlecht?«
»Nein.«
Jack fühlte an ihrer Stirn. »Du bist ein bisschen heiß.«
»Mir geht es gut.«
Er hielt ihre Hand und saß mit ihr auf dem Küchenboden. Sophie legte den Kopf an seine Schulter und machte die Augen zu.
Jack war nicht traurig, was ihn manchmal überraschte. Er war einfach sehr gern mit Sophie zusammen, trotz allem. Als sie die Diagnose bekamen, hätte er nie geglaubt, dass er noch einmal glücklich sein könnte. Die richtige Reaktion auf ein schwerkrankes Kind schien stoische Ruhe zu sein oder eine bleischwere Feierlichkeit, die fliegende Vögel zu Boden reißen oder dem Sonnenlicht die Helligkeit aussaugen konnte. Im ersten Jahr hatte Jack so empfunden, doch das war vorbei.
Man war nur traurig, wenn man alles miteinander verband; wenn man zuließ, dass die verstreuten Augenblicke miteinander verschmolzen und einen in ihrer Gesamtheit zu Boden rissen. Wenn man einfach so wie jetzt auf dem Küchenboden saß und es genoss, dass die schachbrettartigen Fliesen unter den Füßen von der hellen Aprilsonne gewärmt wurden, und man den aschenen Medikamentengeruch seines Kindes einatmete, war es in Ordnung.
Das Radfahren half. Man konnte das Training und den Schmerz, den man beim Sprint empfand, nur ertragen, wenn man das Leben von einer Sekunde zur nächsten lebte. Mit dieser Haltung schaffte man es über die Ziellinie und durch die Umkleide hinaus ins normale Leben, das feuchte Trikot noch in der Tasche. Ein schmerzhafter Moment war niemals unerträglich, außer man ließ zu, dass er sich mit den Momenten davor und danach verband. Man konnte die Atome der Zeit dazu bringen, über den Tag hinweg in fein säuberlich getrennten Nischen zu funktionieren.
Jack ließ Sophie an seiner Schulter einschlafen. Er lächelte. Man konnte förmlich hören, wie die Lichtschwerter durch ihre Träume geisterten.
Kate kam herein und schaute zärtlich auf sie hinunter. Sie sah müder aus als sonst. Er wusste, dass es ihr schwerer fiel als ihm, den Tag einfach über sich hinwegspülen zu lassen. Sie war es ganz und gar leid, dass ihre Tochter leiden musste, das war es. Jack neigte dazu, auf die Chemo zu vertrauen, wusste aber, dass Kate sich ständig fragte, ob sie nach all den Versuchen, Sophie zu helfen, nicht auch noch ihr eigenes Herz
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