Gold
festhielt.
Sie flüsterte: »Du hast sie erschreckt.«
Kates Verstand schwankte zwischen ihrem Traum und der unverständlichen Wirklichkeit.
Der Mann wirkte neugierig oder feindselig oder beides. »Bist du wegen Jack hier?«, fragte er mit schottischem Akzent.
Kate setzte sich auf und umklammerte ihren Mantel. »Ja.«
»Fährst du auch Rad?«
»Ja. Ich bin Kate.«
Der Mann starrte sie an. Sein Gesicht sah Jack so ähnlich, das machte sie ganz verrückt. Sie kniff die Augen zusammen, um den Schlaf zu vertreiben. Drückte die Knie aneinander, weil sie plötzlich Scham und Panik verspürte. Die Bilder ihres Traums verschwanden. Sie fragte sich, ob sie im Schlaf Geräusche von sich gegeben hatte.
»Bist du das Mädchen, wegen dem unser Junge gestürzt ist?«
Oh Gott – das waren Jacks Eltern.
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum bist du dann hier?«
Sie merkte, wie sie rot wurde.
»Ach, lass die arme Kleine doch in Ruhe«, sagte die Frau.
»Robert Argall«, sagte der Mann. »Und das ist meine Frau Sheila.«
Sheila trug blaue Jeans. Ein blaues T-Shirt. Beigefarbene Wildlederstiefel, die innen an den Knöcheln blankgewetzt waren. Sie war etwa vierzig. Dünn und blass. Sie hatte trockenes Haar und blaue Augen mit dunklen Ringen darunter. Sie sah nicht aus wie jemand, der geschlagen wurde, sondern wie jemand, der Gift genommen hatte. In kleinen Dosen, still, über viele Jahre hinweg. Ihre Haut war leicht gelblich. Man konnte sich tatsächlich vorstellen, wie sie in den Schrank unter der Treppe schlüpfte, den Deckel von der Schuhcreme schraubte und schnell daran roch und leckte, um dann in die Küche zurückzueilen und Robert seinen Tee zu kochen. Robert sah aus … Kate wusste nicht, wie er aussah. Wie ein Mann, der einen dazu brachte, Schuhcreme zu probieren.
Sheila lächelte ihr rasch zu, schaute auf ihre Hände und fummelte an ihrer zusammengelegten Jeansjacke herum.
Robert war kleiner als sein Sohn. Er war auch dünner, hatte keine Haare und sah krank aus. Vom Gesicht her erinnerte er an Jack, hatte aber das Leben aus sich hinaus geraucht. Seine Haut war gelb und ledrig. Kate konnte nicht fassen, wie sehr sich Jack in seiner Schönheit von seinen vergifteten Eltern unterschied. Er war ein Paradiesvogel, der aus einem Hühnerei geschlüpft war.
Robert und Sheila setzten sich ihr gegenüber und schauten sie an. Zwischen ihnen war ein leerer Stuhl. Robert warf seine Autoschlüssel und eine gefaltete Zeitung darauf, so eine mit nackten Brüsten auf der Titelseite. Auf die Brustwarzen waren kleine Sterne gedruckt, damit sich niemand aufregte. Neben den Schlüssel legte er ein Minifeuerzeug und eine Zehnerpackung Benson & Hedges. Er trug eine braune Lederjacke mit Schulterriegeln. Die Luft um ihn herum roch bitter nach Zigarettenrauch und Mist. Er sah Kate nicht an, sondern starrte auf die Wand über ihrem Kopf.
»Unser Sohn ist hier, um sportlichen Erfolg zu haben, nicht um den Mädels nachzurennen. Komm bloß nicht auf falsche Ideen.« Sein Blick wanderte die Wand hinunter, bis er auf Kate traf. »Verstanden?«
Selbst seine Augäpfel waren gelb, die Iriden milchig blau.
Sheila wurde rot. Sie umklammerte ihre Jacke.
»Es tut uns leid«, sagte sie, ohne Kate anzusehen. »Ganz ehrlich. Aber du weißt nicht, wie das ist, wo wir herkommen. Es ist seine Chance, da rauszukommen.« Sie schüttelte entschieden den Kopf.
Robert griff nach dem Feuerzeug. Er drehte mehrmals das Rädchen, drückte aber nicht die Zündtaste. »Wir sind sofort losgefahren, als das Krankenhaus angerufen hat. Wir wussten nicht, ob er tot oder lebendig ist«, sagte er.
»Tot oder lebendig«, wiederholte Sheila.
»Wir sind über die M6 gekommen. Ein Pfund der Liter Sprit. Aber er ist unser Sohn.«
»Unser Sohn«, sagte Sheila.
»Es tut mir leid«, hörte Kate ihre eigene Stimme.
Sie wusste nicht, weshalb sie es gesagt hatte, und war verwirrt. Die plötzliche Realität, in die hinein sie aus ihrem Traum von Jack erwacht war, in der sie sich seinen Eltern gegenüber sah, war zu viel für sie. Sie verabschiedete sich schnell, griff nach der Sporttasche und eilte den Flur entlang.
Dann begriff sie. Sie hatte die Situation entsetzlich missverstanden. Wie hatte sie nur so naiv sein und Jacks Flirt mit ihr irgendeine tiefere Bedeutung beimessen können? Natürlich sagte er nette Sachen zu Mädchen. Nur war sie nicht immun dagegen. In all den Jahren, in denen sich die anderen Mädchen durch das ständige Zusammensein mit Jungen dagegen
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