Gold
seinem Krankenbett sitzen und seine Hand halten zu wollen und vielleicht ein bisschen zu weinen. Genau das war’s – sie wollte weinen. Ob mit ihm oder wegen ihm, wusste sie nicht.
Hätte sie jemand anderen in diesem Zustand auf der Straße gesehen, den Kopf mit den Händen umklammernd, hätte sie höflich weggeschaut. War das normal? Fühlten sich andere Frauen auch so verrückt? Oder war dies ihr Dilemma, untrennbar mit dem intensiven Leben verbunden, für das sie sich entschieden hatte? Vielleicht war es gar keine Überreaktion. Vielleicht bahnten sich lediglich ihre wahren Gefühle, scharf bis zur Unerträglichkeit, unterdrückt durch dreizehn Jahre hartes Training, schmerzhaft einen Weg nach außen wie Zähne, die durchs Zahnfleisch drangen.
Sie stöhnte. Deshalb fuhren andere Leute keine Radrennen. Deshalb trainierten andere Leute nicht sieben Stunden täglich. Deshalb tranken andere Leute Alkohol und gestatteten sich Körperfett und entspannten sich abends mit ihren Freunden – sie wollten nicht hilflos wie Neugeborene mit diesen unerträglichen Gefühlen kämpfen. Ihr Herz raste, in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie ballte die Hände zu Fäusten und kniff frustriert die Augen zu.
Der helle Sonnenschein war dichten Nachmittagswolken gewichen. Die ersten dicken Regentropfen fielen auf den Gehweg, die anderen Fußgänger beschleunigten ihren Schritt. Der verblüffende Duft von Regen, von Jugend und frischem Wasser erhob sich über die Auspuffgase. Sie sah zu, wie sich die Menge zerstreute, und fragte sich, was ihr mehr Angst einjagen würde: wenn sie genau wie die anderen Menschen wäre oder das Gegenteil. Wenn alle genauso empfänden wie sie, wie könnte dann jemand überleben? Wie hielt man es aus, wenn an einem gezogen und gezerrt wurde, wenn man sich verlor, während ganze Schichten des eigenen Ich an der Oberfläche anderer Menschen haften blieben und sich ganz von einem selbst ablösten? Wenn sie sich gestattete, sich zu verlieben, würde bald nichts mehr von ihr übrig sein. Nur eine Erinnerung an sie im Ausatmen der Menge, die auf dem Gehweg auseinanderstob.
Sie sollte nach Hause fahren. Ihr Trainingsplan begann am nächsten Morgen um fünf. Außerdem hatte sie einen Job als Trainerin bei LA Fitness, und sie machte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, die noch zwei Jahre dauerte. Sie hatte Freunde. Menschen, die sie brauchten.
Kate ging weiter zum Bahnhof. Sie zwang sich ganz bewusst in diese Richtung und war unglücklich bei jedem Schritt, der sie weg von Jack und zurück in ihr eigenes Leben führte. Sie war zu klein für so große Gedanken. Sie sah zu, wie sich ihre Turnschuhe auf dem nassen Pflaster wieder langsamer bewegten. Sie spürte den rauen Asphalt in allen Einzelheiten. Ihre Sohlen führten bedeutende Gespräche mit feuchten Zigarettenkippen und alten, harten Kaugummiresten.
Wenn sie jetzt kehrtmachte und zu ihm ging, würde sie ihr Ziel aus den Augen verlieren. Sie hatte vorgehabt, das Velodrom nach der Sichtung zu verlassen, mit dem Zug nach Hause zu fahren und einfach abzuwarten, ob ein Anruf vom Radsportverband kommen würde. Es war ein guter Plan gewesen, und jetzt das. In ihrem Kopf ging die Sonne gleichzeitig auf und unter – eine Hälfte strahlend hell, die andere im Zwielicht. Es war gleichzeitig der aufregendste, schmerzhafteste und verwirrendste Moment ihres Lebens.
Sie war neunzehn. Auf halbem Weg zum Bahnhof blieb sie abrupt stehen, änderte die Richtung und rannte zum Krankenhaus.
Atemlos erreichte sie den breiten Flur vor der Intensivstation. An beiden Wänden waren stapelbare braune Plastikstühle aufgereiht. Die Krankenschwestern konnten ihr keine Auskunft geben und baten sie zu warten. Sie saß eine Stunde da, las Broschüren über den Tod und seine Ursachen und hatte immer noch nichts gehört. Sie war müde nach dem anstrengenden Tag, legte sich quer über drei Stühle und deckte sich mit ihrem Mantel zu.
Sie träumte von Jack, und als sie aufwachte, war sie feucht zwischen den Beinen, etwas flatterte in ihrer Brust. Draußen war es dunkel. Der Krankenhausflur wurde von Neonröhren erhellt, in deren Acrylverkleidungen sich tote Fliegen angesammelt hatten. Dies war das Erste, was sie sah, und dann das Gesicht eines Mannes mittleren Alters, der auf sie herabschaute. Blinzelnd setzte sie sich auf. Der Mann sah aus wie Jack, nur fast leblos. Sie legte die Hand auf den Mund und unterdrückte einen Schrei.
Neben dem Mann stand eine Frau, die seinen Arm
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