Goldbrokat
die bestimmte Farben nicht erkennen könnten und damit auch ein Bild, sei es noch so ein großes Kunstwerk, nie richtig zu würdigen wüssten.
Andererseits bemerkte ich bei einigen Zuhörern ähnliche Anzeichen von Ermattung, und der aufbrausende Beifall entsprang zu einem guten Teil sicher dem Gefühl der Erlösung, als der Meister sein Manuskript zuschlug. Dann aber erfolgte etwas, das meine Lebensgeister deutlich belebte. Helene schwebte an das Lesepult. Sie ergötzte uns mit einem Gedicht aus ihrer Feder, dessen Sujet ein Seidenröslein war. Schwungvoll deklamierte sie:
»Er tritt zu ihr, sie senkt die Lider,
Doch bebt die Seidenros’ an ihrem Mieder,
Mit ihrem Blick, dem mädchenhaften,
Bleibt drauf ihr Aug’ an seinen Lippen haften.«
Mühsam unterdrückte ich das wilde Kichern, das in meiner Kehle aufstieg. Doch es kam noch schlimmer.
»›Mein Liebelein!‹, haucht er verwegen -
Schon beugt ihr Mund sich ihm entgegen.
Er deckt ihn ganz mit nassen Küssen,
Die sie wollt nie mehr missen müssen.«
Ich zog die Wangen zwischen die Zähne und biss darauf, um nicht loszuprusten. Denn die Dichterfürstin legte nun alle Inbrunst, derer sie mächtig war, in ihre Stimme.
»Doch keusch tut sie zurück ihn weisen:
›Ist’s wahr, mein Held, Sie wollen reisen?
Man sagte mir so en passant,
Es zieht Sie ins Tartarenland.‹
›Ich muss, mein Liebstes, Sie verlassen,
Doch nie würd’ ich Sie sitzen lassen.‹«
Tante Caro neben mir stöhnte lustvoll auf.
»Es klopft das Herz ihr in der Brust
Gleich einer Flut steigt wilde Lust.
Das Seidenröslein am Dekollte
Ihr schier vom Busen springen wollte.
Er streicht mit seiner Finger Gier
Sanft übers Seidenröslein ihr.«
Ich klappte verzweifelt den Fächer auf, um mein Gesicht dahinter zu verbergen. Zufällig fiel mein Blick auf Paula und Albert, die beide ebenfalls mit krampfhaft versteinerter Miene zuhörten, und als die junge Frau meinen Blick bemerkte, schlug sie ebenso rasch den Fächer auf. Albert rollte nur mit den Augen.
Erbarmungslos fuhr Helenen mit ihren Knüttelversen fort:
»›Gewähren Sie mir eine Bitte,
Auch wenn sie gegen alle Sitte …‹<
Sie nickt erbleichend, zitternd, bebend,
Und greift zum Mieder, widerstrebend.
Doch dann mit starkem Sentimente
Reißt sie es los, das Posamente.
Und steckt verzückt die Seidenrose
mit zarter Hand an seine Hose.«
Applaus brandete auf, und selbst ich klatschte mir die Hände heiß.
»Ist sie nicht eine wundervolle Dichterin, Ariane? Welch Schmelz, welch zarte Anspielungen, welch Eloquenz«, begeisterte Tante Caro sich neben mir.
Ich sparte mir einen Kommentar; sie hätte ihn nicht verstanden. Dafür sah ich verstohlen auf die Wanduhr und fragte mich,
wie lange ich die literarische Tortur noch würde ertragen müssen.
Lange genug, denn nun las ein gebildeter Herr einen ellenlangen Essay vor, dessen säuerliche Moralismen sich durch endlose Sätze schlängelten.Vom unterdrückten Gähnen setzte bei mir bald eine Kieferstarre ein, und Tante Caro bekam den glasigen Blick eines Mondkalbs kurz vor dem Entschlummern. Ich stupste sie vorsichtig an, und sie schreckte aus ihrer Benommenheit auf.
»Wir sollten gehen, wenn der fertig ist«, flüsterte ich ihr zu.
»Nein, das dürfen wir nicht, Ariane. Es werden noch andere Dichter lesen.«
»Ich habe maßlose Kopfschmerzen.«
»Hast du nicht. Komm, sei geduldig, es ist doch sehr erbauend, was er geschrieben hat.«
Die Aussicht auf eine Flucht war hoffnungslos.
Endlich hatte auch dieser Schriftsteller seinen wortreichen Erguss beendet, und wieder eilte mit flatternden Shawls Helene vor. Sie erquickte uns mit einem gereimten Werk, das von einem jungen Helden handelte, der einer äußerst prüden Dame einen Samthandschuh abzuschwatzen versuchte. Diesmal erheiterte mich der mit bebendem Pathos vorgetragene Schwulst nicht mehr, stattdessen nahm der Fluchtgedanke überhand. Deshalb geschah es denn auch, dass mir nach gut dreißig Strophen bedauerlicherweise der seidene Faden der Geduld endgültig riss und ich nicht mehr Herrin meiner Zunge war. Denn als sie mit dem schönen Vers endete:
»Er kost die samtgen Finger zart:
›Madame, Sie sind so züchtig,
Madame, Sie sind so delikat‹,
Haucht er dabei sehnsüchtig«,
richtete ich mich auf und rezitierte in die gebannt lauschende Stille mit klarer Stimme:
»Getragen von der Stimmung Wogen
Naht kühn sich ihr der stramme Freier.
Doch ihre Faust, mit Samt bezogen
Die fährt ihm schmerzhaft
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