Goldbrokat
weiß, fast durchsichtig erschien ihre zarte Haut. Auch ihre Haare hatten die Konsistenz und Farbe von gesponnener weißer Seide, aber vor allem ihre Augen waren es, die die Leute irritierten. Ihre Iris war fast farblos, wirkte beschattet hellgrau, fiel aber das Licht hinein, schimmerte sie rosa.
Ihre Begleiterin, Madeleine, hatte ihr großzügig den Fensterplatz überlassen, sodass sie den Blicken der anderen Fahrgäste ausweichen und die vorüberfliegende winterliche Landschaft betrachten konnte. Madeleine hingegen genoss die Aufmerksamkeit der beiden Handlungsreisenden und flirtete heftig mit ihnen.
Nona gönnte ihr die Unterhaltung. Sie hatte ihrer Freundin viel zu verdanken. Kennengelernt hatte sie die Halbfranzösin in Lyon, wo sie, gleich ihr, in einer Handschuhmanufaktur tätig
war.Vom ersten Tag an hatte sie ihr geholfen, sich in die Arbeitsabläufe einzufinden.Vielleicht hatte sie es zunächst nur aus Mitleid für eine Außenseiterin getan oder aus Neugier, wie ein solch seltsames Geschöpf wie sie reagierte, aber zaghaft hatte sich daraus so etwas wie eine Freundschaft entwickelt. Madeleine war es schließlich auch gewesen, die den Vorarbeiter darauf aufmerksam gemacht hatte, mit welcher Akkuratesse sie die Seide zu verarbeiten wusste, und danach teilten sie sich einen Arbeitstisch.
Seide war Nonas Leben. Wie von selbst nahmen die zarten Gewebe unter ihren Händen Form an. Sie war in der Lage, mit den haardünnen Fäden feinste Nähte zu setzen, die andere fast gar nicht mehr erkennen konnten. Dafür hatte sie einige Probleme, in der Ferne besonders klar zu sehen, aber das störte sie wenig. Ihre Welt war klein und spielte sich zwischen ihren Händen ab.
Weil sie eine so geschickte Näherin war, hatte Madeleine ihr auch vorgeschlagen, sie nach Köln zu begleiten, wo ihre Großmutter zu Hause war. Nona hatte einige Tage überlegt, denn eine solche tiefgreifende Veränderung ihres Lebens machte ihr Angst. Aber eine andere Lösung fiel ihr auch nicht ein, da die kleine Manufaktur auf Grund der ungeheuer gestiegenen Preise für Seide hatte schließen müssen und sie vor der Wahl stand, sich in einer der Fabriken als Arbeiterin zu verdingen oder wieder auf das Gut des Seidenzüchters Charnay zurückzukehren.
Beiden Möglichkeiten war dann doch die Umsiedlung in die deutsche Stadt vorzuziehen, zumal Madeleine ihr davon in den höchsten Tönen vorgeschwärmt hatte.
Inzwischen zweifelte sie an den Lobeshymnen. Es war kalt in Preußen, die Sprache klang rau in ihren Ohren, die Menschen hasteten ständig von einem Ort zum anderen.
Aber vielleicht lag das nur daran, dass sie die nun schon vier Tage dauernde Reise per Dampfschiff, Postkutsche und Eisenbahn, immer auf den billigsten Plätzen, erschöpft hatte. Außerdem fürchtete sie sich. Was, wenn sie Madeleine irgendwo im
Gewimmel verlieren würde? Was, wenn einer dieser Männer auf die Idee käme, sich an einem seltsamen weißen Wurm wie ihr zu vergreifen? Nona hatte häufig genug die Erfahrung gemacht, dass ihr abnormes Aussehen manchen als Freibrief galt, sie zu begrapschen und obszöne Wünsche zu äußern.Wie so oft, wenn die Angst sie zu überwältigen drohte, fasste sie in ihre Manteltasche und ließ den schmalen Seidenschal zwischen ihren Fingern hindurchgleiten. Seide – ihre Freundin. Seide – ihr Schicksal.
Schmuddelig, durchfroren und hungrig kamen sie schließlich am frühen Abend in Köln an und standen dann ein wenig hilflos auf dem Bahnhof von St. Pantaleon im Zugwind. Wieder war es Madeleine, die eine Lösung wusste. Die Handlungsreisenden hatten Zimmer in einer Pension reserviert, und sie schlug vor, in demselben Haus zu übernachten und erst am nächsten Tag die Suche nach der Wohnung ihrer Großmutter aufzunehmen.
In der Vorweihnachtszeit besuchten nicht viele Reisende die Stadt, und so bekamen sie ein Kämmerchen zugewiesen, in dem sie sich wenigstens den Reisestaub abwaschen und den Ruß aus den Haaren bürsten konnten. Nona kroch, nachdem sie eine heiße Suppe gegessen hatte, sofort unter die Decken, Madeleine, weit unternehmungslustiger, wollte die Bekanntschaft mit den beiden Herren noch ein wenig vertiefen.
Der nächste Tag brachte die erste Enttäuschung. Nach einigem Umherirren durch die verwinkelten Straßen der Stadt mussten sie feststellen, dass Madeleines Großmutter schon vor zwei Jahren fortgezogen war. Eine Nachbarin erzählte ihnen, sie sei zu ihrem jüngsten Sohn nach Metz gegangen.
»Zu Onkel Charles werde ich
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