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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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war wieder heller geworden für mich.

Die Versenkung
    Etwas lernen
und mit der Zeit darin immer geübter werden,
ist das nicht auch eine Freude?
     
    Konfuzius
    Die Welt um ihn herum war heller geworden. Der Frühling kam früh nach Suzhou, und das erste Grün spross bereits am Rande des kleinen Bachlaufs, der am Kloster vorbeifloss.
    Die Welt in seinem Inneren jedoch war weiter von Schatten verhüllt, und nur mit gewissenhafter Disziplin lebte er Tag für Tag weiter.
    Natürlich hatte er Fortschritte gemacht. Sein Atem gehorchte ihm besser als früher, er konnte weitere Strecken gehen, ohne zu ermatten. Sein geduldiger Lehrer hatte ihm nun gezeigt, wie er mit langsamen Bewegungen seiner Arme das qi durch seinen Leib leiten konnte.Anfangs hatte er sich geweigert, die seltsamen Figuren nachzuahmen. Es war ihm peinlich, sich mit schulterbreit auseinandergestellten Füßen in einen imaginären Sattel zu hocken. Genauso erschien es ihm unsinnig, dabei die Arme mit offenen Händen vor sich auszustrecken und dann Luft nach unten zu drücken. Aber so sanft und freundlich der Mönch sprach, so unerbittlich forderte er auch.
    Inzwischen hatte er sich damit abgefunden, diese Übungen zu absolvieren, und er durfte inzwischen sogar schon den Vogel am Schwanz fassen, eine der blumigen Bezeichnungen für bestimmte Bewegungsabfolgen. Er hatte gemerkt, dass die ausschließliche Konzentration auf seine Bewegungen und seinen Atem ihm halfen, die Geister der Vergangenheit zu bannen. Sie
stahlen sich nicht mehr so häufig uneingeladen in seine Gedanken. Doch gerade heute, an diesem sonnigen Tag, fielen sie wieder über ihn her. Gestern, am Neujahrstag nach dem chinesischen Kalender, war George Liu vorbeigekommen. Er hatte ihn in den letzten zwei Monaten ungefähr jede Woche einmal besucht. Kurz nur, und nur mit wenigen Neuigkeiten, die er den Zeitungen entnahm. Der britische Admiral Seymour hatte im Dezember Kanton erobert. Der Taiping-Aufstand war noch immer nicht beendet, aber das Blatt wendete sich für die Europäer. Diese Tatsachen hatten ihn wenig berührt.Tiefer betroffen hatte ihn die Nachricht, dass Tianmei sich das Leben genommen hatte. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, George ein paar mitfühlende Worte zu sagen. Sie war seine Mutter, und sie hatte die Schande, die ihre Tochter Ai Ling über sie gebracht hatte, nicht ertragen. George hatte sie an einer seidenen Schnur hängend an einem Pfirsichbaum in ihrem Garten vorgefunden. Ein in schönster Kalligraphie geschriebener Abschiedsbrief lag in dem Lackkästchen zu ihren Füßen. Dieses Kästchen hatte George ihm gestern vorbeigebracht, und einer der Mönche hatte ihm die von Trauer und Scham diktierten Zeilen vorgelesen, da seine Kenntnisse der Schriftzeichen sehr begrenzt waren.
    Tianmei, die Geliebte seines Paten Servatius, dem sie die Kinder George und Ai Ling geboren hatte, schenkte ihm das Haus in Suzhou, das Servatius für sie gebaut hatte, als Wiedergutmachung für das Leid, das ihre Tochter ihm zugefügt hatte.
    Die entsprechend gesiegelten Urkunden befanden sich ebenfalls in dem Lackkästchen.
    Die Betroffenheit ging tiefer, und sie weckte die Schar der Dämonen, sodass er sich erschöpft an das Geländer der hölzernen Brücke lehnen musste.
    Unter ihm glitt das klare Wasser so ruhig dahin, dass er sein eigenes Spiegelbild erkennen konnte. Oder besser – das Geschöpf erblickte, das sich über das Geländer lehnte. War das er? Dieses verwilderte Wesen, dessen verfilzte Locken und ein struppiger
Bart ein hohlwangiges Gesicht umgaben? Dessen eingesunkene Augen ihm entgegenstarrten? Oder war einer der Dämonen leibhaftig aus dem Flussbett gestiegen, um ihn zu quälen?
    Er hob die Hand – der andere tat es auch.
    Er fuhr sich durch die Haare. Über den Bart.
    Was war nur mit ihm geschehen? Nackte Verzweiflung überkam ihn. Er war nicht mehr er selbst. Ein behaartes Gerippe, kaum mehr als Mensch zu erkennen.
    Er schüttelte sich und fuhr sich über die Augen, wie um das Gesehene fortzuwischen. Und als er wieder hochschaute, sah er einen der jüngeren Mönche auf einem bemoosten Trittstein im Bachlauf stehen. In schwerelosem Gleichgewicht hielt er sich auf einem Bein, und mit traumgleichen Bewegungen vollführte er einen fließenden Tanz mit den Händen.
    Gleichgewicht – das war es, was er wiederfinden musste. Nicht üben, auf einem Bein zu stehen, so weit war er noch lange nicht. Alles war so erbärmlich in Unordnung geraten, durch Gleichgültigkeit und

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