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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Vernachlässigung, und das galt es wieder zu stabilisieren. Früher hatte er sich immer für einen ausgeglichenen Menschen gehalten, leidenschaftlich zwar und dynamisch, aber nie wirklich haltlos.
    Das war er erst in den letzten Jahren geworden. Er musste zurückgewinnen, was einst selbstverständlich gewesen war.
    Und eingedenk dessen, was man ihn gelehrt hatte, lenkte er seinen Atem und die Lebenskraft in seinen Körper.
    Diesmal fühlte es sich richtig an, nicht ungewohnt oder albern. So stand er selbstversunken auf der Brücke und formte die Luft mit seinen Händen.
    Mit einem Mal, ganz unerwartet, erkannte er die Schönheit um sich herum. Die biegsamen, lichtgrünen Weidenzweige, die in das stille Wasser tauchten, die moosigen Ufer, die weißgetünchten Klostermauern, deren gebogene Giebel in vollendeter Harmonie zu den geschmeidigen Bäumen standen. Die Pagode ragte hinter ihnen auf, und volltönend klang die Glocke durch die klare Luft. Stärke erfüllte ihn, straffte seine Muskeln,
weitete seine Lunge und belebte sein Blut. Gemächlich beendete er seine Übungen und kehrte dann in den Klosterhof zurück. Erstmals seit er in diesem Sanktuarium die Augen geöffnet hatte, verspürte er Hunger.
    Und das Bedürfnis nach einer Haarschere und einem Kamm.

Kleine Samariter
    Edel sei der Mensch,
hilfreich und gut!
     
    Johann Wolfgang von Goethe, Das Göttliche
    Laura war besonders stolz auf sich. Sie hatte ein Versteck gefunden, das bisher noch keiner entdeckt hatte. Obwohl Franz, der Sohn des Hausmeisters, und die beiden Töchter der Wäscherin zweimal an ihr vorbeigelaufen waren.
    »Hab ich dich!«
    »Philipp!«, quiekte sie erschrocken auf, als ihr Bruder sie am Kragen packte und zwischen den Ascheneimern hervorzog.
    »Bah, siehst du aus. Mama wird Läuse kriegen, wenn sie dich sieht.«
    Schuldbewusst betrachtete Laura ihre ehemals weiße Schürze. Rußspuren und vermutlich Schlimmeres befleckten sie in einem recht unansehnlichen Muster.
    »Ich wasch sie nachher aus. Und ich bügle sie auch selbst.«
    »Mach du das mit Mama aus, aber lass dich bloß nicht von Tante Caro so erwischen.«
    Laura nickte. Mama war in Ordnung, sie hatte nichts dagegen, wenn sie, nachdem die Schulaufgaben erledigt waren, im Hinterhof spielten. Hier fand sich auch eine Rasselbande Gleichaltriger zusammen, Kinder der Handwerker und Dienstboten, die in den Hinterhäusern wohnten. Selbstverständlich waren die in den Augen der vornehmen Tante Caro kein Umgang für sie, aber was sie nicht wusste … Mit Mama hatten sie ein Komplott geschmiedet. Wenn Tante Caro ausgegangen war oder ihren
Empfangstag hielt, dann durften sie ihrem Vergnügen im Hof nachgehen.
    Heute war nach langer Zeit mal wieder Empfangstag. Irgendwas war kurz vor Weihnachten vorgefallen, das das Klima im Haushalt sehr frostig gestaltet hatte, und sie wie auch Philipp hatten das untrügliche Gefühl, dass ihre Mama daran Schuld trug. Sie hatte aber nicht mit ihnen darüber gesprochen, und das hatte sie zusätzlich unsicher gemacht. Aber bei einem aufregenden Versteckspiel konnte man das alles vergessen.
    Ein leiser Schrei weckte ihre Aufmerksamkeit. Laura tauchte hinter den Ascheneimern auf und sah gerade noch, wie der Hausmeisterssohn einen Apfelstrunk aufklaubte und ihn auf eine zusammengekauerte Gestalt bei den Mülltonnen warf.
    »Hau ab, wir wollen keine Bettler hier!«, brüllte er und nahm einen spitzen Stein auf.
    Der Schmerzenslaut, als er traf, klang jämmerlich, die Gestalt rappelte sich auf, versuchte durch das Tor zu entkommen, stürzte aber auf das Pflaster.
    Einen zweiten Stein konnte Franz nicht mehr werfen, Laura war wie eine Furie auf ihn gesprungen.
    »Lass das! Siehst du nicht, dass die krank ist?«
    »Quatsch! Die schleppt nur Ungeziefer rein!«
    Neugierig war Philipp zu der Frau in dem schmuddeligen grauen Mantel getreten und sah sie an.
    »Können wir Ihnen helfen, Fräulein?«, fragte er, eingedenk der guten Manieren, die seine Mutter ihm eingebläut hatte. Sie machten auch vor einer Bettlerin nicht Halt. Doch dann zuckte er doch zusammen, denn aus dem unnatürlich blassen Gesicht schauten ihn müde rosafarbene Augen an. In der Hand hielt die Frau einen schmalen Seidenschal, den sie schnell in der Tasche ihres Mantels verschwinden ließ.
    »Isch versteh nischt. Pas d’allemand.«
    Laura kam jetzt auch herbei, und als die Frau – sie war noch gar nicht alt, trotz der weißen Haare, die unter dem löchrigen Schal hervorlugten – sich aufzurappeln

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