Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Einzige, der sich noch bewegen kann. Wenn ich noch einmal schnipse, bewegt sich die Welt wieder. Ich ziehe mir den Teller vom Schlepplift unter dem Po hervor. Ich steige mit schräg gestellten Skiern den Hang hoch, bis ich das Mädchen erreicht habe. Ich gucke mir das Mädchen von dicht an. Ich gucke mir sein Gesicht an. Ich küsse es auf die Lippen. Es sind sehr weiche Lippen. Ich lege das Mädchen neben den Lift in den Schnee. Ich öffne den Reißverschluss von ihrem Anorak. Ich ziehe das Mädchen nackt aus. Ich hänge ihre Kleidung in eine Tanne am Rand der Liftspur. Ich schaue mir das nackte Mädchen im Schnee an. Ich fahre zurück zu meinem Teller. Ich setze mich wieder in den Lift. Ich schnipse mit dem Finger. Der Lift fährt weiter. Alle gucken das Mädchen an. Es wundert sich, warum es nackt im Schnee liegt.
98
Ich gehe mit Dirk über die Straße. Dirk hat den Fußball unter dem Arm. Es ist eklig, einen nassen Fußball zu tragen. Es ist Dirks Fußball, also muss er ihn tragen. Sein Anorak wird schmutzig.
Eine Mutter mit einem Kind geht vor uns auf dem Gehweg. Eine Mutter mit einem Mädchen, die sich an den Händen halten. Ein Mann kommt ihnen entgegen. Der Mann trägt eine braune Lederjacke und einen grünrot gestreiften Pullover. Er geht an der Mutter und dem Mädchen vorbei. Er dreht sich um und sagt: Angst ist Scheiße.
Die Mutter und das Mädchen drehen sich nicht um. Sie gehen weiter. Der Mann schaut uns an. Er hat eine große rote Nase. Er schaut mir in die Augen. Die Augen von dem Mann sind ebenfalls rot. Er sagt: Zu viel Angst in Deutschland.
Der Mann hat eine Zahnlücke. Wir drehen uns nach ihm um. Der Mann hat Locken. Er dreht sich zu uns um, er sagt: Wovor eigentlich?
Dirk und ich sehen uns an. Wir kichern. Dirk sagt: Sind wir hier in Ochsenzoll oder was?
99
Ich klettere über den Zaun. Das habe ich erst vor kurzem herausgefunden. Man muss nicht durch den Haupteingang gehen. Das ist ein Umweg, von der U-Bahn aus. Ich gucke, ob mich keiner sieht. Es ist niemand auf der Straße. Auf der anderen Seite vom Zaun ist Wald. Der Ochsenzoll-Wald. Und hinter dem Wald ist Haus 35. Hinter dem Wald ist meine Mutter.
Auf dem Boden liegt ein gelber Teppich ausgebreitet. Das kommt von den Nadeln, die von den Tannenbäumen gefallen sind. Die Tannenbäume heißen Lärchen, das ist die einzige Sorte, die im Winter ihre Nadeln verliert. Die Nadeln schlucken die Geräusche. Es ist kalt, es ist schon fast wie Weihnachten. Dabei ist es bis Weihnachten noch lange hin. Aber es ist schon wie Winter und gestern hat es kurz geschneit.
Wenn ich stehen bleibe, höre ich die Straße ganz dicht. Ich habe eingefrorene Finger. Ich muss daran denken, Handschuhe anzuziehen. Ich gehe am Brunnen vorbei.
Als es warm war, hat hier einmal eine türkische Familie gesessen. Auf dem Boden, auf dem Rasen hat sie gesessen. Ein Vater, eine Mutter und drei Kinder. Sie hatten eine Decke ausgebreitet. Sie haben ein Picknick gemacht in Ochsenzoll, als wäre das die normalste Sache der Welt.
Tschüs, Brunnen, sage ich. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich hier vorbeigehe, am Brunnen.
Der Mann, der Hans heißt, macht mir die Tür auf. Hans mit der Brille und den großen Augen. Großmutter, warum hast du so große Augen? Hallo, sage ich.
Jonas, sagt Hans. Ich glaube, deine Mutter ist im Aufenthaltsraum.
Hm, mache ich.
Jetzt ist es bald geschafft, was?, sagt Hans.
Ja, sage ich.
Schön, nicht?, sagt Hans.
Ja, sage ich. Hans lächelt. Es funkelt hinter seiner Brille, wenn er lächelt. Ich lächel auch, aber bei mir funkelt nichts.Ich gucke den Flur hinunter, ein Neonlicht nach dem anderen. Ich gehe den Flur hinunter. Eine alte Frau kommt mir entgegen. Die Frau heißt Frau Wrangel, das weiß ich. Sie bleibt stehen, sie lächelt mich an, sie sagt: Ich habe Helmut Kohl in meinem Bauch.
100
Das Telefon klingelt. Ich stehe neben der Kommode, als hätte ich darauf gewartet. Ich bin dran, nach dem ersten Klingeln. Ja, sage ich, Jonas Fink?
Ich bin’s, sagt René.
Hallo, sage ich. Wie geht’s?
Gut, sagt René. Was machst du?
Nichts, sage ich. Ich gucke fern.
Dabei stimmt es nicht. Ich habe Flipper geguckt, aber ich kannte die Folge schon. Flipper verletzt sich an der Schraube eines Motorboots. Er kann sich in eine Unterwasserhöhle retten, wo er fast verblutet. Ich habe den Fernseher ausgemacht.
Was ist, kommst du rüber?, fragt René.
Ich kann nicht, sage ich.
Wieso?, fragt René.
Meine Mutter kommt nach Hause.
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