Goldener Reiter: Roman (German Edition)
mich atmen. Es geht nicht anders. Ich habe ein bisschen Schnupfen, deshalb muss ich durch den Mund atmen.
Jetzt reicht es, sagt Tante Margret. Sie hat sich aufgesetzt und die Nachttischlampe angeknipst. Ich blinzele Tante Margret im Nachthemd an. Sie hat bloß ein Nachthemd an.
Hör auf zu atmen, sagt sie. Oder du gehst rüber in dein Bett. Eins von beiden.
Ich strenge mich an, sage ich.
Ich drehe mich zur Wand um und mache mich klein.
Ich halte die Luft an.
95
René und ich sitzen auf dem Gatter und sehen in die Sonne. Die Sonne steht dicht über der Weide. Unter der Sonne stehen zwei Ponys. Ein kleines dickes, das braun ist, und ein etwas größeres, das weiße und braune Flecken hat. Ich muss die Augen zusammenkneifen, wenn ich die Ponys angucke, weil sie direkt unter der Sonne stehen. Man sieht den Dampf von ihrem Atem. Und man sieht Mücken in der Sonne tanzen.
Ich bin froh, dass ich Gummistiefel angezogen habe, weil die Wiese nass ist. René hat bloß Turnschuhe an. Auch im Winter hat er Turnschuhe an.
Guck mal, sagt René. Er holt Zigaretten aus seiner Anoraktasche. Er hält mir eine orange Schachtel hin. Ernte-23 -Zigaretten.
Wo hast du die denn her?, frage ich.
Die hab ich meiner Mutter weggenommen, sagt René. Er klappt die Schachtel auf und nimmt eine Zigarette heraus. Ich wusste, dass das irgendwann kommt. Alle Kinder rauchen irgendwann Zigaretten.
René hat sich eine in den Mund gesteckt. Er hält mir die Schachtel hin. Willst du auch eine?, fragt er. Ich sehe René an. Er sieht gut aus mit der Zigarette im Mund. Das passt zu René. Wie ein Cowboy auf dem Gatter mit den Ponys und der Zigarette.
Nein, sage ich. René holt Streichhölzer aus seiner Jackentasche. Er kriegt das Streichholz nicht an. Soll ich dir Feuer geben?, frage ich.
Nee, sagt René an der Zigarette vorbei.
Beim dritten Streichholz klappt es. René zieht an der Zigarette. Er behält den Rauch lange drinnen. Er hustet nicht. Er pustet den Rauch auf die Wiese. Er hat die Augen geschlossen. Ich glaube, ich fange an zu rauchen, sagt er.
Tust du doch schon, sage ich.
Nee, so richtig, sagt René. Er guckt mich an.
Ich werde niemals rauchen, sage ich, weil ich an meine Mutter denke. René zieht an der Zigarette. Gib mal, sage ich. René grinst. Er bläst den Rauch in meine Richtung. Er gibt mir die Zigarette. Ich schaue sie an, aber ich nehme sie nicht in den Mund. Ich halte sie zwischen meinen Fingern. Es ist komisch, meine Hand sieht anders aus mit einer Zigarette zwischen den Fingern. Es ist eine fremde Hand. René springt vom Gatter. Er geht in die Sonne. He, sage ich.
Bist du schon mal geritten?, fragt René.
Ja, sage ich, bin ich.
Ich noch nie, sagt René. Er lacht und geht auf die Ponys zu. Ich sitze da mit seiner Zigarette in der Hand.
96
Ich starre in den Regen. Ich stelle mir vor, wie es niemals aufhört zu regnen. Der Boden weicht auf. Er kann kein Wasser mehr aufnehmen. Der Pegel im Garten steigt. Ich sitze am Fenster im ersten Stock, während das Regenwasser unten in Küche und Wohnzimmer eingedrungen ist. Ich habe das Schlauchboot und einen Rucksack mit Proviant auf dem Dachboden untergebracht. Ich sitze auf dem Dach, mein Schlauchboot mit dem Rucksack ist am Schornstein festgemacht, und das Wasser schwappt über die Regenrinne.
Die Äste vom Kirschbaum sind schwarz und glänzen im Regen.
Jonas, ich gehe dann jetzt, ruft Tante Margret unten im Flur. Sie hat sich ihren Mantel schon angezogen. Ihr Koffer steht fertig gepackt neben der Tür. Ich antworte nicht. Wind weht Regenschleier über die Autobahn. Tante Margret kommt die Treppe ein paar Stufen hoch. Jonas?
Ja, sage ich.
Ich gehe jetzt, sagt Tante Margret doppelt so laut wie ich. Wollen wir uns verabschieden?
Ja, sage ich.
Ich lege den Haustürschlüssel unten auf die Kommode, sagt sie. Ich ziehe die Tür bloß zu, ja? Sie steht auf der Treppe. Ich höre die Stufen knacken, wenn sie sich bewegt. Sie wartet.
Ja, sage ich.
Sie geht die Stufen hinab. Sie öffnet die Haustür. Tschüs, sagt sie, halblaut.
Tschüs, sage ich zum Regen. Tante Margret zieht die Tür ins Schloss.
Ich drehe mich zu meinem Zimmer um. Ich schaue mir die Poster an. Ich schaue mir den Schreibtisch an. Ich schaue mir mein Spielzeug an, auf dem Teppichboden, Playmobil und Autos. Ich mag nicht da sein. Das stimmt alles nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Ich gehe in den Flur. Das Bett im Schlafzimmer meiner Mutter ist gemacht. Als wäre Tante Margret nicht da gewesen. Aber
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