Goldener Reiter: Roman (German Edition)
wird warm.
Aha, sage ich. Mark nimmt eine andere Flasche und gießt vorsichtig etwas gelbe Flüssigkeit in das Glas in meiner Hand. Die Flüssigkeit stinkt. Es wird warm in meiner Hand. Es qualmt nicht.
Es qualmt nicht, sage ich.
Nein, sagt Mark und liest in der Gebrauchsanweisung seines Chemiebaukastens.
Wollen wir nicht lieber rausgehen?, frage ich. Ich finde Chemiebaukästen langweilig. Aber Mark mag so etwas. Mark liest auch P.M . P.M. steht für Peter Moosleitners interessantes Magazin . Das ist eine Zeitschrift mit wissenschaftlichen Berichten drin. Mark hat P.M. abonniert. Mark ist der einzige Mensch, den ich kenne, der Peter Moosleitners interessantes Magazin liest. Zu Hause bei uns gibt es den Stern .
Ich weiß nicht, sagt Mark und nimmt mir das Reagenzglas aus der Hand. Er schaut es zweifelnd an, von ganz dicht. Er sagt: Die Mengenverhältnisse haben nicht gestimmt.
Wir könnten mit dem Fahrrad zum Haus von Tina fahren, sage ich. Normalerweise zieht das immer. Mark ist in Tina verliebt. Ich bin in Nicole verliebt. Wir sind viel mit dem Rad unterwegs. Wir könnten uns vor dem Haus verstecken und warten, ob sie rauskommt.
Mark schaut mich an. Er hat eine große Nase und eine hohe Stimme. Ich glaube nicht, dass Tina in Mark verliebt ist.
Ich weiß nicht, sagt er. Ich glaube, ich möchte lieber mit meinem Chemiebaukasten experimentieren.
3
Ich sitze neben meiner Mutter im Auto. Ich sitze auf dem Beifahrersitz. Wir hören Musik. Meine Mutter hat eine Kassette eingelegt. Ein Mann mit einer rauchigen Stimme singt I am Sailing . Das ist Englisch und bedeutet Ich segle . Meine Mutter kennt den Text und singt mit. Das darf sie. Im Auto darf sie singen. Das hat sie schon immer getan. Früher, wenn wir meine Oma besuchten, haben wir im Auto Horch, was kommt von draußen rein und Hab ’ne Tante in Marokko gesungen, wenn wir in die DDR gefahren sind.
Wir fahren in ein Parkhaus. Die Auffahrt geht immer im Kreis, wie eine Wendeltreppe für Autos. Ich weiß, dass meine Mutter keine Parkhäuser mag. Sie mag keine Steigungen fahren. Einmal sind wir mit dem Auto in den Winterurlaub gefahren. Die Berge hoch, kleine, enge Straßen, die man Serpentinen nennt. Es hatte geschneit. Es war mitten in der Nacht, aber man konnte trotzdem gut sehen, wegen dem Schnee. Meine Mutter wusste nicht, wie man Schneeketten aufzieht. Sie fuhr an den Straßenrand und hielt das Lenkrad umklammert. Wir standen am Straßenrand und hatten die Heizung an. Meine Mutter rauchte eine Zigarette nach der anderen, der Schnee fiel und machte die Motorhaube weiß, bis zum Morgen, bis ein anderes Auto kam.
Das erste Parkdeck ist besetzt, das zeigt ein rotes Signal an. Das zweite Parkdeck ist ebenfalls besetzt. Meine Mutter stellt die Musik aus. Das dritte Parkdeck hat ein grünes Signal. An der Einfahrt ist eine Baustelle. Eine Baustelle im Parkhaus, das habe ich noch nie gesehen. Die Hälfte der Fahrbahn ist abgesperrt. Männer in orangen Overalls stehen herum und rauchen Zigaretten. Meine Mutter hält vor der Baustelle. Sie zieht die Handbremse an. Das Auto steht schräg. Der Motor läuft.
Das schaffe ich nicht, sagt sie. Die Bauarbeiter schauen zu uns ins Auto. Meine Mutter kurbelt ihr Fenster herunter.
Nur zu, junge Frau, sagt ein Bauarbeiter. Die Bauarbeiter grinsen.
Ich komme da nicht vorbei, sagt meine Mutter.
Das schaffen Sie schon, sagt der Bauarbeiter. Wir winken Sie vorbei.
Mama, sage ich.
Meine Mutter lässt die Handbremse los. Der Wagen rollt nach hinten. Meine Mutter lässt den Motor aufheulen. Der Wagen kommt die Steigung nicht hoch. Sie zieht die Handbremse an.
Sie müssen die Kupplung schon kommen lassen, sagt ein Bauarbeiter.
Mama, sage ich, mach, bitte. Der Wagen macht einen Satz nach vorn.
Ich komme da nicht vorbei, sagt meine Mutter. Sie zieht die Handbremse an und stellt den Motor aus. Sie steigt aus. Sie geht zu den Bauarbeitern hinüber und spricht mit ihnen. Sie lässt mich im Auto sitzen. Ich mache das Radio an. Ich segle , singt der Sänger mit der rauchigen Stimme. Die Bauarbeiter lachen. Einer kommt auf mich zu. Er steigt ins Auto und setzt sich auf den Platz von meiner Mutter. Ich schaue aus meinem Fenster die Parkhauswand an. Der Mann fährt das Auto an der Baustelle vorbei aufs Parkdeck. Meine Mutter lacht mit den Bauarbeitern.
4
Ich sitze im Wartezimmer von Doktor Braun. Ich habe meine Klammer eingesetzt. Die Klammer drückt an den Zähnen. Es tut weh. Es ist ungewohnt. Die rote Plastikdose baumelt
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