Goldmarie auf Wolke 7
Kopf. Dieses Wort klang in meinen Ohren ähnlich fremd wie Meridiane. »Hast du Lust auf ein Experiment?«
»Hm, ja, grundsätzlich schon«, murmelte ich etwas überrumpelt und fand mich Sekunden später auf einer bequemen Liege wieder.
Nives stand neben mir und hielt meinen linken Arm in ihrer warmen, weichen Hand. »Ich stelle dir jetzt eine Frage, du darfst sie aber nicht laut beantworten. Lass den Arm so locker wie möglich und tu einfach gar nichts. Alles andere ergibt sich von selbst.« Mein Herz begann, heftig zu klopfen, während ich auf die Frage wartete. »Magst du Schnee?«, wollte Nives wissen und mein Arm fiel nach unten, ohne dass sie oder ich etwas dazu getan hatten. »Du magst ihn also«, lächelte Frau Hulda und sah mich erwartungsvoll an. »Ja, das stimmt, woher wissen sie …?«, stammelte ich. Gleich danach beantwortete ich zwei weitere Fragen auf dieselbe Weise: »Isst du gern Kohlrabi?« – »Nein.« – »Magst du Flieder?« – »Ja.« Nives wusste auch hier die richtige Antwort, ohne dass ich einen Ton gesagt hatte. »Wie machen Sie das?«, fragte ich fasziniert und setzte mich wieder auf. War meine Chefin eine Hellseherin oder hatte sie einfach eine gute Intuition? »DAS ist Kinesiologie, meine Liebe«, antwortete sie und machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Ich stelle meinen Kunden Fragen und ergründe mithilfe dieser Methode die Ursache für ihre Schlafstörungen. Die Technik basiert auf dem Zusammenspiel von Muskeln, Organen, Gefühlen und Energiebahnen, auch Meridiane genannt.« Ich beschloss, diesen Begriff sofort zu googeln, sobald ich zu Hause war. Einen kurzen Moment blitzte der Gedanke in mir auf, Frau Hulda zu bitten, mithilfe dieses Tests herauszufinden, weshalb ich immer mal wieder in Ohmacht fiel, wie zuletzt am Samstagabend. Das Ganze war mir immer noch sehr peinlich. Was Morten wohl von mir dachte? Ich musste ihn unbedingt noch mal anrufen und mich bei ihm für seine Hilfe bedanken.
Noch viel unangenehmer fand ich allerdings den Gedanken an Sören, den netten Heilpraktiker, der ebenfalls beim Konzert gewesen war und Morten geholfen hatte, mich nach Hause zu bringen. Schließlich kannte er mich überhaupt nicht.
Dafür war er aber sehr sympathisch, soweit ich das nach unserer kurzen Begegnung beurteilen konnte.
18. Marie Goldt
(Dienstag, 22. November 2011)
»Magst du keine Musik?«, fragte Dr. Willibald Hahn und schaute mich prüfend an. Ich hatte ihm gerade von meinem Ohnmachtsanfall in der Prinzessinnenbar erzählt.
»Doch schon«, stammelte ich und versuchte, die Bilder der Vergangenheit zu verscheuchen. Darin sah ich mich selbst als kleines Kind. Paps brachte mir geduldig das Notenlesen bei, obwohl ich mit vier noch ein bisschen zu klein dafür war. »Ich habe sogar einige Jahre Klavier gespielt. Aber das ist jetzt vorbei, ich beschäftige mich lieber mit anderen Dingen!«
Dr. Hahn rückte seine Fliege zurecht, sagte jedoch nichts weiter dazu. Dieses Verhalten war einer der Gründe, weshalb ich immer noch vor jeder Therapiestunde nervös war. Erwartete er, dass ich ihm jetzt von meinen Hobbys erzählte? »Meine Stiefmutter hat das Klavier verkauft, weil wir nach dem Tod meines Vaters in eine kleinere Wohnung umziehen mussten und sie das Geld dringend brauchte. Jetzt habe ich nur noch meine Bratsche, aber die liegt seit Jahren unbenutzt in ihrem Kasten.« Willibald Hahn sah mich weiter an, ohne eine Miene zu verziehen. Mir brach der Schweiß aus.
Und weil ich das Schweigen zwischen uns kaum aushielt, erzählte ich weiter. »Ich bin seit dem Tod meines Vaters nahezu allergisch gegen alles, was mit Musik zu tun hat. Es macht mich traurig, wenn im Fernsehen MTV oder VIVA läuft, ich höre kaum noch CDs, ich singe nicht mehr. Es zerreißt mir einfach das Herz, wenn ich daran denke, dass mein Vater für die Musik und seine Band gelebt hat. Und dass ich eigentlich zusammen mit ihm auf Tournee gehen wollte, sobald ich alt genug dafür gewesen wäre.«
»Und trotz alldem hast du dich auf diesen Konzertbesuch eingelassen. Was hast du denn geglaubt, was passieren würde?«
»Ich … ich hab nicht nachgedacht. Ich fand es so nett, dass Morten mich eingeladen hat, oder nein … halt, eigentlich hat Julia mich ermuntert, nein sogar gebeten, ihm eine Chance zu geben und endlich mal auszugehen, anstatt nur zu Hause herumzusitzen.«
»Machst du immer das, was man dir sagt?«
Verlegen starrte ich auf meine Schuhspitzen.
Diese Stiefel mussten dringend mal wieder geputzt
Weitere Kostenlose Bücher