Goldmarie auf Wolke 7
werden!
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder, deren Eltern sich getrennt haben oder die sogar den Verlust eines Elternteils zu verkraften haben, extrem angepasst handeln. Ein deutsches Sprichwort sagt ›Wer mit den Wölfen essen will, muss mit ihnen heulen.‹ Ich persönlich bevorzuge die Variante der Chinesen: ›Wo das Dach niedrig ist, geht ein Weiser nicht anders als gebeugten Hauptes.‹ Doch manchmal ist es viel klüger, seine eigenen Wünsche über die der anderen zu stellen, sonst passiert nämlich genau das, was du am Samstag erlebt hast.«
Obwohl ich das alles interessant und ein Stück weit schlüssig fand, regte sich ein innerer Widerstand in mir. »Aber sollte man nicht auch mal auf Konfrontationskurs gehen? Es ist doch bestimmt nicht gut, auf Dauer allem aus dem Weg zu gehen, das einem Angst macht.« Dieser Satz stammte zwar von Julia, aber das musste ich Dr. Willibald ja nicht auf die Nase zu binden.
»Das ist prinzipiell richtig und ich würde dich jederzeit in allem unterstützen, was dich stärkt – aber manche Dinge brauchen eben Zeit, um zu heilen. Du bist immer noch sehr traurig und verwirrt und solltest dich nicht überfordern. Hast du eigentlich den Brief an deinen Vater geschrieben, um den ich dich gebeten habe?« Ich schüttelte beschämt den Kopf. Jeder Versuch, ihn zu beginnen, war nach spätestens drei Sätzen gescheitert und hatte jede Menge schönstes Briefpapier gekostet, das ich erst zerknüllt und später heimlich in dem Ofen verbrannt hatte, mit dem wir ganz altmodisch die Küche heizten.
Nach der anstrengenden Sitzung beschloss ich spontan, bei Niki im Laden vorbeizuschauen, schließlich lag die Praxis nur ein paar Häuser von Traumzeit entfernt.
Bevor ich eintrat, betrachtete ich das Schaufenster, das neu dekoriert worden war. Irgendjemand hatte von innen glitzernde Aufkleber in Form von Schneekristallen angebracht, dabei aber ein bisschen herumgekleckst. Auch bei der Anordnung der Bettwäsche, Kissenbezüge, Nackenrollen und Nachttischlampen hätte ein bisschen mehr Liebe und ein besseres Gespür für Farben nicht geschadet. »Na, wie findest du Nikis Auslage?«, fragte eine männliche Stimme mit leichtem englischem Akzent. Ich drehte mich um und blickte direkt in die bernsteinfarbenen Augen von Dylan O’Noonan. Sein rötliches Haar fiel ihm in die Stirn. Er trug ein kariertes Basecap und wieder die coole Lederjacke von neulich, die bei näherer Betrachtung aber ziemlich abgeschrabbelt aussah. Seine langen Beine steckten in einer schwarzen Zimmermannshose aus Cordsamt, seine Füße in dicken Boots, mit denen man bestimmt stundenlang wandern gehen konnte. Vorausgesetzt, man ging gern wandern, nicht gerade mein liebstes Hobby.
»Du bist die neue Aushilfe. Marie, nicht wahr?«, fragte Dylan und streckte mir seine Hand hin. »Ich bin Dylan, Stammkunde von Nives und ihr größter Fan. Du kannst mich aber auch Schlaflos in Hamburg nennen, wenn du magst.« Der letzte Teil des Satzes war von einem ungeheuer charmanten Lächeln begleitet. »Wieso kommst du denn so oft hierher, wenn Nives ihr Handwerk so gut versteht?«, fragte ich, biss mir aber im selben Moment auf die Lippen. Frau Hulda war schließlich meine Chefin und ich kannte den Iren erst seit Kurzem. »Das ist eine berechtigte Frage«, grinste Dylan und fuhr sich mit der Hand über sein modisches Ziegenbärtchen, das ihn ein wenig wie einen der drei Musketiere aussehen ließ. Oder wie Orlando Bloom, nur wesentlich männlicher. »Nives sagt dazu ja gern: ›Es dauert alles so lange es eben dauert.‹ Ich schmunzelte, denn ich kannte den Satz bereits. »Das wäre, glaube ich, nichts für mich, denn mich kannst du getrost Ungeduldig auf der Reeperbahn nennen.«
»Du wohnst auf dem Kiez?« Dylan zog seine Augenbraue fragend nach oben.
»Hast du ein Problem damit?«
»Nein, nein, ganz im Gegenteil! Ich hätte dich nur eher in einem … sagen wir … bürgerlicheren Stadtteil vermutet. So etwas in der Art wie Uhlenhorst, Barmbek oder eben hier in Winterhude.«
»Wo wohnst du denn?«
Dylan lachte und wirkte ein wenig verschämt. »In Eppendorf.«
»Woran man mal wieder sieht, dass man niemals nach Äußerlichkeiten urteilen sollte«, entgegnete ich und versuchte, mir den eher freakigen Typen in Hamburgs Nobelstadtteil vorzustellen, der gelegentlich zurecht »Schnepfendorf« oder »Deppendorf« genannt wurde.
»Kannst mich ja mal besuchen, dann wirst du sehen, dass ich gar nicht so wohne, wie es das Klischee vermuten
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