Goldmarie auf Wolke 7
früher. Sobald die Ferien um sind, werde ich mich mal mit ihm unterhalten.«
Nachdem ich den Tee getrunken und mich bei beiden für ihre Hilfe bedankt hatte, lag ich da und starrte an die Decke. Plötzlich tauchten Bildfetzen vor meinem inneren Auge auf, die ich mir nicht erklären konnte. Erschreckende Traumsplitter, wie dazu gemacht, mich irgendwann in den Wahnsinn zu treiben. Ich sah immer wieder Momentaufnahmen, die meine Mutter und einen schwarz gekleideten Mann zeigten. Und eine schneeweiße Taube.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Beim Gedanken daran, dass ich womöglich ein viel ernsteres Problem hatte, als nur ab und zu umzukippen, wurde mir gleich wieder schwarz vor Augen. Was, wenn ich auf dem Weg war, verrückt zu werden? Wer würde sich dann um mich kümmern?
Warum hatten meine Eltern mich nur verlassen?
Und ich sehnte mich so sehr nach Dylan …
Als ich das nächste Mal aufwachte, war es kurz vor elf.
Über der Wohnung lag friedliche Stille, ich war also allein. Nach einem Becher Kaffee sah die Welt ein kleines bisschen freundlicher aus, aber nicht hell genug, um meine Ängste endgültig zu vertreiben. Als hätte sie gespürt, dass ich sie brauchte, klingelte in diesem Moment mein Handy und Julia war dran. »Ich dachte, ich nutze die Pause mal, um bei dir anzurufen. Wo steckst du denn? Ist alles in Ordnung mit dir?« Ich erklärte ihr kurz und knapp, was passiert war, beziehungsweise woran ich mich erinnern konnte. Es dauerte eine Weile, bis Jule antwortete: »Also allmählich mache ich mir echt Sorgen, Süße. Das klingt alles ganz und gar nicht gut. Bist du dir sicher, dass du weiter zu diesem Dr. Hahn gehen solltest? Am Anfang schien das ja ganz toll zu sein, aber momentan habe ich eher den Eindruck, dass das ein bisschen zu viel für dich ist. Vielleicht ist es manchmal besser, gar nicht erst an den Dingen zu rühren, die einem so wehtun.« Ich schluckte. »Was hältst du davon, wenn ich nach der Schule vorbeikomme und wir einen kleinen Kiez-Bummel machen? Irgendwie bin ich ja immer noch scharf auf diese roten Stiefel, die wir neulich im Schaufenster des Erotik-Shops gesehen haben.« Während ich noch überlegte, ob es in Ordnung war, einen Einkaufsbummel zu machen, obwohl ich in der Schule krankgemeldet war, klingelte es. »Sekunde, Jule, da ist jemand an der Tür. Ich leg dich mal eben beiseite, okay?« Doch es war weder der Briefträger, wie ich vermutet hatte, noch der Paketbote. Vor meiner Tür stand – Dylan. Verlegen lächelnd, einen Strauß weißer Blumen in der Hand. »Hallo Marie«, sagte er und schaute mich aus seinen sensationell bernsteinfarben schimmernden Augen an, den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen. »Ich hab gerade Besuch bekommen, ich ruf dich zurück, ja?«, rief ich aufgeregt in den Hörer und drückte den Aus-Knopf, ehe Jule auch nur »Piep« sagen konnte. Und dann wusste ich nicht, was ich zuerst denken oder tun sollte. »Darf ich reinkommen?«, fragte Dylan und zog fröstelnd seine Schultern hoch. Ich fror ebenfalls. Die Kälte aus dem Treppenhaus hatte sich mittlerweile im Flur breitgemacht.
»Ja natürlich, sorry. Setz dich doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich stell nur noch gerade den Strauß ins Wasser«, murmelte ich vollkommen überwältigt. Dylan hängte seine Lederjacke an die Garderobe und zog die Stiefel aus. Ich flitzte erst in die Küche und dann in mein Zimmer. Himmel, was sollte ich nur anziehen? Und warum kam er ausgerechnet heute, wo ich kaum wusste, wo oben und wo unten war? Nach einer Katzenwäsche entschied ich mich für meine Lieblingsjeans und einen roten Strickpullover. Die Haare band ich zum Zopf. »Und? Wie war deine Reise?«, fragte ich, stellte ihm einen Becher Kaffee auf den Couchtisch und bemühte mich, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Erzähl mir lieber mal, wie es dir geht«, entgegnete Dylan, anstatt auf meine Frage einzugehen. »Nives sagte, du bist gestern wieder in Ohnmacht gefallen?!« Ach deshalb wusste er, dass ich heute zu Hause war. »Das war nichts weiter, nur ein kleiner Schwächeanfall«, versuchte ich abzuwiegeln und mich dagegen zu wehren, was seine bloße Anwesenheit bei mir auslöste. Jules Einbruch zusammen mit Jojo war vollkommen unnötig gewesen, denn ich war kein bisschen weniger in ihn verliebt. Im Gegenteil! Wie er da so saß und besorgt die Stirn runzelte, wäre ich ihm am liebsten sofort um den Hals gefallen. Doch Gefühle hin oder her – es gab einiges zwischen uns zu klären!
Weitere Kostenlose Bücher