Goldstein
Rath, der ganz schön mutig oder wenigstens großmäulig sein konnte im Umgang mit Vorgesetzten oder Verbrechern, zu feige oder zu kleinlaut oder was auch immer, um Charlotte Ritter einen Heiratsantrag zu machen? Kaum vorstellbar? Natürlich war das vorstellbar.
Sie hatte nicht gewusst, ob es Freude war oder Entsetzen, dieses Gefühl, das in diesem Moment durch ihre Blutbahnen gerauscht war, jedenfalls war es dieses Gefühl, mehr noch als ihre wirrenGedanken, das sie auf den Stuhl hatte sinken lassen und auch jetzt wieder in ihren Eingeweiden wühlte.
Sie hatte immer gedacht, sie wisse, was sie wolle. Bei Gereon wusste sie das nicht. Er hatte ihr die größte Enttäuschung ihres Lebens bereitet, und trotzdem hatte sie es noch einmal mit ihm versucht. Wahrscheinlich war schon das ein Fehler gewesen. Aber sie genoss diesen Fehler, genoss ihn mit jeder Faser ihres Körpers.
Das halbe Jahr, das sie zwangsläufig von ihm trennen würde, in wenigen Wochen schon, es kam ihr nun vor wie ein Gottesgeschenk. Wenn sie nach diesem halben Jahr immer noch nicht wusste, was sie wollte, ob sie ihr Leben mit ihm oder ohne ihn leben wollte, dann war ihr wirklich nicht mehr zu helfen. Und bis dahin – warum sollte sie es bis dahin nicht weiter genießen, das Leben mit ihm, und all diese Bedenken einfach beiseiteschieben.
Das laute Brummen eines Dieselmotors schreckte sie auf. Charly hatte das Wertheim-Tor gerade erreicht, da hielt ein Lastwagen direkt neben ihr. Der Geruch von Blut und Diesel wehte herüber, auf der Fahrertür konnte sie den Schriftzug des Zentralen Vieh- und Schlachthofs erkennen. Der Fahrer stieg aus und zeigte dem Uniformierten, der das Tor bewachte, ein paar Papiere. Der Pförtner nickte, der Lkw-Fahrer kletterte wieder auf seinen Bock und fuhr auf den Hof, ein Lkw voller Schweinehälften, wie Charly mitbekommen hatte. Für sie selbst war es schwieriger, auf das Gelände zu gelangen, als für die Schweinehälften. Keine Papiere, keine Zugangsberechtigung. Ihr weiblicher Charme, dem Herr Eick noch erlegen war, half diesmal nicht; der Pförtner ließ sich nicht erweichen.
»Für Unbefugte kein Zutritt!« Das schien der einzige Satz zu sein, den der Mann beherrschte.
»Ich suche einen gewissen Erich Rambow«, sagte Charly.
Genauso gut hätte sie mit dem Parkverbotsschild sprechen können, das den Straßenrand vor der Wertheim-Einfahrt bewachte. Nach zwei, drei Versuchen ihrerseits schaltete der Pförtner auf stur, erstarrte zur Statue und reagierte überhaupt nicht mehr. Es kam erst wieder Bewegung in ihn, als der nächste Laster Einlass begehrte, auch der mit dem Schriftzug des Vieh- und Schlachthofs. Das Fleisch, das bei Wertheim verarbeitet wurde, kam wohl aus Friedrichshain. Zum ersten Mal in ihrem Leben machte Charlysich Gedanken darüber, welche Fleischberge eine Stadt wie Berlin wohl Tag für Tag vertilgen mochte, und ihr wurde ein wenig flau, sie verspürte plötzlich eine heftige Sehnsucht nach einem einfachen grünen Salat. Doch der Blutgeruch, der immer noch in der Luft hing, überlagerte alles andere und ließ keine vegetarischen Gedanken zu. Charly zündete sich eine Zigarette an, das half.
So stand sie da in der Voßstraße, rauchte und wartete und wusste nicht einmal genau, auf wen. Anfang bis Mitte zwanzig, vermutete sie, älter dürfte Alex’ ehemaliger Verehrer kaum sein, und sie hielt Ausschau nach Männern, die in dieses Muster passten. Und da kam auch schon einer, der aussah wie ein Fleischergeselle. Charly ging ihm entgegen und fing ihn ein paar Meter vor dem Wertheim-Tor ab.
»Sind Sie Erich Rambow?«, fragte sie.
Der Junge war höchstens zwanzig und taxierte sie unverfroren von Kopf bis Fuß. »Wat krieje ick denn, wenn ick so heeße?«, fragte er und grinste. »Nur nen Kuss oder ooch’n bisken mehr?«
Für einen Moment war Charly sprachlos, aber nur für einen Moment, dann hatte sie ein paar passende Worte gefunden. »Wie wär’s mit ’nem Tritt zwischen die Beine?«
Was der konnte, konnte sie schon lange! Wozu war sie in Moabit aufgewachsen?
»Schon jut, schon jut!« Der Junge hob abwehrend die Hände. »Wat hatter denn Schlimmet jemacht, der Erich?« Er schüttelte den Kopf, schwang seine Tasche über die Schulter und zog weiter, zeigte dem Pförtner seine Stempelkarte und durfte passieren. Charly schaute ihm nach. Das konnte ja heiter werden! Drei Versuche noch, sagte sie sich, und keiner mehr. Sie hatte Besseres zu tun, als sich dämliche Sprüche von grünen Bubis
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