Goldstein
diesen Vorgang nicht gemeldet«, fuhr Lange fort, »eine Tatsache, die mich sehr wundert – oder eigentlich überhaupt nicht wundert, denn sie bestärkt mich in dem Glauben, dass der Mann etwas zu verbergen hat.«
Grzesinski hörte aufmerksam zu. Und während er zuhörte, schaute er sich die Fotografien an, die sich auf seinem Schreibtisch verteilt hatten. Sie zeigten die Fassade eines Schöneberger Mietshauses, auf der schnell hingepinselte Großbuchstaben vier Worte formten:
RACHE FÜR BENNY S.
68
S o früh war Charly schon lange nicht mehr aufgestanden. Und das ausgerechnet nach solch einer Nacht! Aber was sollte sie tun; es blieb ihr keine andere Wahl, der Betrieb in der Wertheim-Fleischerei ging früh los. Und so hatte sie sich aus dem Bett und unter die Dusche gequält und war mit der U-Bahn bis zum Kaiserhof gefahren und dann zurück in die Voßstraße gegangen, vorbei am Justizministerium und den Länderbotschaften. Das war die eine Seite der Voßstraße, Relikte aus Berlins königlich preußischer Vergangenheit, auf der anderen Straßenseite aber erstreckte sich über eine Länge von mehreren hundert Metern ein riesiger Gebäudekomplex, der trotz aller Ornamentik industriell wirkte: das Kaufhaus Wertheim, das seine Fassade der Leipziger Straße zuwandte und für die Voßstraße nur seine Kehrseite übrig hatte. Die einst ruhige Straße war zur Lebensader des riesigen Kaufhauses geworden, des größten der Stadt; über die Voßstraße wurde Wertheim versorgt, der hungrige Moloch, der jeden Tag aufs Neue Tausende Kunden zufriedenstellen musste. Über die Voßstraße rollten die Lieferwagen mit der neuen Ware, über die Voßstraße holten Müllfahrzeuge das ab, was nicht verkauft wurde, über die Voßstraße traten die meisten Wertheim-Mitarbeiter ihren Arbeitstag an. Und alle mussten sie durch ein großes schmiedeeisernes Tor in einem Zaun, der mehr zu einem Schloss oder zu einer Villa gepasst hätte als zur Anlieferungszone eines Warenhauses.
Charly gähnte. Eine verdammt kurze Nacht. Der Abend mit Gereon war anders verlaufen, als sie gedacht hatte. Den Sekt hatte sie nun doch nicht allein getrunken. Und den Krabbensalat hatten sie sich schließlich auch geteilt, ein kleines Picknick im Bett. Nachher. Und vorher. Gestern hatte es sich so ergeben, doch heute verstand sie gar nichts mehr. Ein halbes Jahr mit Heymann ins Ausland, entschieden über Gereons Kopf hinweg, und er hatte es akzeptiert. Und dann war sie seinem Charme und seinen verdammten blöden Witzen doch wieder erlegen, obwohl sie sich das eigentlich anders vorgestellt hatte. Vielleicht sogar vorgenommen hatte. Wann eigentlich war es passiert; wann hatte der Abend seine entscheidende Wende genommen? Jedenfalls spätestens in demMoment, als sie von Mineralwasser auf Champagner und später auf Weißwein umgeschwenkt war und alle Vorsätze, mit denen sie in dieses Gespräch gegangen war, vergessen hatte. Und so waren sie alle beide wieder in der Spenerstraße gelandet und im Bett. Da, wo sie sich immer schon am besten verstanden hatten.
Der Wecker hatte heute Morgen brutal früh geklingelt. Sie hatte Gereon, der sie verschlafen anblinzelte, weiterschlafen lassen und war aufgestanden, hatte sich nach dem Duschen mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch gesetzt und eine Zigarette rauchen wollen. Hatte festgestellt, dass ihre Juno aufgebraucht waren und in Gereons Jackett nach seinen Overstolz gesucht. Und dabei die Ringe gefunden.
Jetzt noch hatte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an diese Entdeckung dachte. Zwei zwillingsgleiche Ringe, die verdammt teuer aussahen, und einer davon passte perfekt auf ihren Ringfinger. Der andere war etwas größer.
Verdammt!
In diesem Moment waren derart viele, sich gegenseitig widersprechende und widerstrebende Gedanken durch ihren Kopf gejagt, dass sie sich erst einmal hatte hinsetzen müssen. Und darüber sogar die Zigaretten vergessen hatte.
Verlobungsringe! Er hatte Verlobungsringe in der Tasche!
Hatte er ihr gestern Abend allen Ernstes einen Antrag machen wollen? An einem Abend, an dem sie um ein ernstes Gespräch gebeten hatte? Kaum vorstellbar. Obwohl: Bei Gereon war alles vorstellbar. Sie hatte an Köln denken müssen, den verkorksten Abend im Restaurant, an den Rosenstrauß, den er Guido um die Ohren gehauen hatte. Womöglich trug er diese Ringe schon seit Tagen, seit Wochen, seit Monaten mit sich herum und wartete auf den richtigen Moment. Der natürlich niemals kam. Kaum vorstellbar: Gereon
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