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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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gesehen?«,fragte Tornow, und Rath staunte, wie viel Mitgefühl in seiner Stimme mitschwang.
    Margot Kohn wurde gleich zugänglicher. »Gestern Nachmittag«, sagte sie und setzte sich wieder, ihre Teetasse dabei geschickt balancierend. »Wir haben ihn besucht mit der Familie. In den letzten Wochen waren wir fast jeden Tag da.«
    »Und gestern Nachmittag ging es ihm noch gut?«
    »Was heißt gut? Wir wussten alle, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Er selbst am allerbesten. Aber mein Vater hatte keine Angst vor dem Tod. Hat er nie gehabt. Er ist ... war sehr gläubig. Das einzig Schlimme für ihn waren die Schmerzen.«
    »Hat er denn nichts von Abraham erzählt? Ihn nicht einmal erwähnt? Ihr Neffe muss seinen Großvater vor ein paar Tagen schon einmal im Krankenhaus besucht haben.«
    Sie schüttelte den Kopf, eher unwillig als verneinend. »Selbst wenn er in der Stadt sein sollte, hat er ihn doch nicht umgebracht«, sagte sie, »den eigenen Großvater! Das denken Sie doch nicht wirklich?«
    Rath legte den Löffel, mit dem er bislang im Tee gerührt hatte, beiseite. Er wollte gerade antworten, da flog die Tür auf, und ein energischer Mann trat in den Raum. Eine Vorstellung war überflüssig, Rath und Tornow wussten auch so, dass es sich um Doktor Hermann Kohn handelte. Der Rechtsanwalt zeigte sich überrascht und ungehalten über den Besuch der Polizei. »Darf ich fragen, was Sie hier wollen?«
    »Eine reine Routinebefragung«, entgegnete Rath. »Ihre Gattin ist mit einem flüchtigen mutmaßlichen Mörder verwandt, und ...«
    »Wie bitte?«
    »Abraham Goldstein«, begann Rath, doch Margot Kohn übernahm die weiteren Erklärungen.
    »Nathans Sohn«, sagte sie. »Aus Amerika. Er ist angeblich in der Stadt.« Sie zeigte ihrem Mann die Samstagsausgabe des Tags , die Rath mitgebracht hatte, weil dort alles Wesentliche stand. Hermann Kohn hielt die Zeitung mit spitzen Fingern und überflog den Artikel, den er offensichtlich ebenso wenig kannte wie seine Frau. Der Tag war eine Zeitung, deren reaktionäre Schreiber auch antisemitische Untertöne nicht scheuten.
    »Und warum kommen Sie in dieser Angelegenheit zu uns?«, fragte er. »Mein Schwager ist vor Ewigkeiten in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Als Margot ihn zuletzt gesehen hat, da war sie vierzehn ...«
    »Fünfzehn«, schluchzte die Frau plötzlich los, »und Nathan ist längst tot, und Sie erzählen mir, sein Sohn sei ein Gangster und Mörder, der womöglich den eigenen Großvater umgebracht haben soll.«
    »Um genau das auszuschließen, haben wir die Leiche Ihres Vaters doch in die Gerichtsmedizin bringen lassen«, sagte Rath und merkte im selben Moment, wie wenig taktvoll das war, nicht nur, weil Margot Kohn noch einmal aufschluchzte.
    »Und das, ohne die Angehörigen zu informieren«, sagte der Rechtsanwalt.
    »Mit Verlaub, aber natürlich haben wir ...«
    »Flegenheimer haben Sie Bescheid gegeben! Mir nicht!«
    »Dann haben Sie es ja offensichtlich von Ihrem Schwager erfahren.«
    »Vom Krankenhaus habe ich es erfahren. Dass Sie die Leiche meines Schwiegervaters einfach konfisziert haben.«
    »Das ist nicht der richtige Begriff, wir ...«
    »Belehren Sie mich bitte nicht, welche Begriffe hier richtig sind und welche nicht! Wir wollen unseren Vater bestatten, und es ist uns nicht möglich. Wissen Sie eigentlich, dass die jüdische Tradition normalerweise ein Begräbnis noch am Tage des Todes vorsieht?«
    »Nein, das wusste ich nicht, aber ...«
    »Erzählen Sie das mal meinem Schwager, der ist da weniger verständnisvoll als ich.«
    Soso, dachte Rath, Doktor Hermann Kohn hält sich also für verständnisvoll.
    »Und was unser Glaube zu Obduktionen sagt, ist noch eindeutiger: So etwas ist verboten, weil es den Toten ihre Würde nimmt. Was Sie da veranstalten, ist aus Sicht eines gläubigen Juden so ungeheuerlich, dass es sogar dazu geführt hat, dass mein Schwager mich zum ersten Mal seit mindestens fünf Jahren wieder angerufen hat.«
    »Unser Gerichtsmediziner Doktor Schwartz ist selbst Jude und wird sicherlich wissen ...
    Wieder unterbrach Kohn Raths Rechtfertigungsversuch. »Magnus Schwartz ist alles Mögliche, aber bestimmt kein gläubiger Jude.«
    »Sie kennen Doktor Schwartz?«
    »Wir sind in dieselbe Schule gegangen, Magnus und ich.« Kohn schaute Rath direkt in die Augen. Ein Blick, der einen hoffen ließ, diesem Mann in seiner beruflichen Funktion niemals vor Gericht zu begegnen. Der Anwalt schüttelte den Kopf, als müsse er einen Richter vom

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