Goldstein
Unvermögen der Staatsanwaltschaft überzeugen. »Mein Schwiegervater lag im Sterben, und Sie vermuten einen Mord hinter seinem Tod, das ist doch mehr als lächerlich!«
»Wie ich schon sagte: Wir lassen die Leiche untersuchen, gerade um einen Mordverdacht ausschließen zu können«, fing Rath noch einmal an, doch ihm war inzwischen klar, dass es zwecklos war, gegen diesen Mann argumentieren zu wollen.
»Dann schließen Sie aus! Fahren Sie zur Hannoverschen Straße und schließen Sie aus. Sehen Sie zu, dass die Leiche endlich freigegeben wird.« Hermann Kohn zeigte unmissverständlich zur Tür. »Und belästigen Sie mich und meine Familie bitte nicht länger, wir trauern um den Vater meiner Frau, falls Ihnen das entgangen sein sollte.«
Der Besuch bei der zweiten Tante gestaltete sich weder angenehmer noch erfolgreicher. Lea Flegenheimer lebte mit ihrer Familie in einer großbürgerlichen Wohnung im Bayerischen Viertel, eine Gegend, in der viele Juden wohnten und in die die Flegenheimers dennoch nicht so recht passen wollten. Ariel Flegenheimer war ein erfolgreicher Geschäftsmann und konnte sich die hohen Mieten dieser Gegend leisten, in seiner schwarzen Kleidung jedoch erinnerte er allzu sehr an die Schtetl-Juden, die vor allem im Scheunenviertel rund um die Grenadierstraße eine neue Heimat gefunden hatten. Auch seinen jüdischen Nachbarn schien das zu missfallen, jedenfalls hatte Rath diesen Eindruck gewonnen, als sie sich im Haus nach der Familie Flegenheimer erkundigt hatten. Die Verachtung und das Unverständnis, die der liberale Jude Hermann Kohn für seinen orthodoxen Schwager gezeigt hatte, waren auch hier zu spüren.
So unterschiedlich die Familien auch sein mochten, in die die Schwestern Goldstein eingeheiratet hatten – in der ungläubigenEmpörung, die sie zeigten, als sie erfuhren, dass ihr amerikanischer Neffe im Zusammenhang mit einem Berliner Mordfall gesucht wurde, unterschieden sie sich kaum.
»Es muss sich um eine Verwechslung handeln«, sagte Lea Flegenheimer, »das habe ich Ihren Kollegen im Leichenschauhaus doch gestern schon gesagt. Mein Neffe ist nicht in Berlin, dann hätte er sich doch bei uns gemeldet.« Die Frau schien viel geweint zu haben in den letzten Stunden. »Und trotzdem haben sie Vater nicht herausgeben wollen.«
Rath war überrascht. »Sie waren schon im Leichenschauhaus?«
»Natürlich!« Ariel Flegenheimer antwortete anstelle seiner Frau. »Gestern Abend, gleich nachdem uns Doktor Friedländer benachrichtigt hatte, dass Sie unseren toten Vater aus dem Krankenhaus haben abtransportieren lassen.«
In seinem schwarzen Kaftan sah der Hausherr zwar aus, als sei er gerade mit einem kleinen Köfferchen aus Grodno nach Berlin gekommen, doch sprach er ein perfektes Hochdeutsch. Nicht einmal der Hauch einer jiddischen Sprachmelodie war herauszuhören; wenn aus Flegenheimers Deutsch überhaupt ein Dialekt herauszuhören war, dann der Berliner. Bart und Schläfenlocken und die schwarze Kleidung zeugten nicht von der Herkunft, sondern allein von einem strengen Glauben. Schon die Mesusa am Türpfosten wies jeden Besucher darauf hin, dass er eine jüdische Wohnung betrat, in der die Religion eine große Rolle spielte. Überall war die Strenge des Glaubens zu spüren. Rath fühlte sich an seine Kindheit erinnert. Bei Tante Lisbeth zuhause war es ähnlich streng zugegangen, katholisch streng allerdings, überall Kruzifixe, Heiligenbildchen, Rosenkränze. Er hatte die Besuche bei seiner strenggläubigen Tante immer gehasst. Ebenso unwohl fühlte er sich jetzt in dieser Wohnung. Und Ariel Flegenheimer trug nichts dazu bei, ihm den Aufenthalt angenehmer zu machen.
»Wie Sie meinen Schwiegervater behandeln«, fuhr er fort, »missachten Sie die Würde seines Körpers! Eigentlich hätten wir ihn gestern Abend schon beerdigen müssen.«
»Sie werden sich ja wohl noch ein wenig gedulden können.«
»Es geht hier nicht um meine Geduld, sondern um Ihren Mangel an Respekt.« Ariel Flegenheimer war offensichtlich ein Mann der klaren Worte. »Die Seele bleibt so lange gegenwärtig, bis derKörper beerdigt worden ist. Erst dann verlässt sie diese Welt«, sagte er mit ernstem Blick. Er schien das wirklich zu glauben. »Deswegen hält Joseph auch Schmira bei ihm.«
»Wie bitte?«
»Mein Sohn. Er hat die ganze Nacht über den Körper seines Großvaters gewacht.«
»Im Leichenschauhaus?« Rath konnte es nicht glauben.
» Sie haben unseren Vater dorthin gebracht. Wenn es nach uns gegangen
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