Goldstein
Postanschrift des 127. Polizeireviers lautete Bayreuther Straße 13, doch das Reviergebäude lag direkt am Wittenbergplatz. Und so fielen die großen Buchstaben, die in einem rötlichen Braun quer über die Fassade des Reviergebäudes gepinselt waren, schon früh am Morgen einer großen Zahl von Menschen auf, denn der Platz war stark frequentiert; zu dieser frühen Uhrzeit noch nicht wegen des KaDeWe, sondern wegen des U-Bahnhofs und der Haltestellen von Omnibus und Straßenbahn, wo Tausende von Berlinern aus- und umstiegen auf ihrem Weg zur Arbeit. Und so etwas wie heute Morgen hatten sie noch nicht gesehen, wenigstens nichtin dieser Gegend: Buchstaben, in ungelenker Schrift, ohne jede Schablone oder besondere Kunstfertigkeit an die Wand gemalt. In den kommunistisch geprägten Vierteln mochten solche Parolen, meist politische, von mutigen Proleten nachts an die Wände geschmiert, an der Tagesordnung sein, hier im Westen waren sie das nicht. So hatten diese schmutzigroten Buchstaben, deren Farbe nach unten weggeflossen war, eine durchaus beunruhigende Wirkung auf die Passanten. Ob der Satz, den sie bildeten, nun ein politischer war oder nicht, darüber ließ sich streiten – was ein Großteil derer, die ihn gelesen hatten, denn auch tat. Jedenfalls boten die Wörter an der Wand ausreichend Gesprächsstoff für einen ansonsten eintönigen Tag, wenigstens für die Fahrt in der Bahn, vielleicht sogar darüber hinaus, weil sie ziemlich geheimnisvoll daherkamen und man über ihre Hintergründe prächtig spekulieren konnte.
Im Büro des Berliner Polizeipräsidenten saßen an diesem Morgen drei Männer, die über genau diese Wörter und ihre geheimnisvolle Bedeutung sprachen. Das heißt, im Moment war es eher so, dass einer der drei Männer Fotos betrachtete und die beiden anderen ihm dabei zuschauten. Keiner sagte ein Wort.
Polizeipräsident Albert Grzesinski, seit einem Tag erst wieder im Dienst, blätterte durch die Schwarz-Weiß-Fotos auf seinem Schreibtisch, die noch ein bisschen feucht waren vom Entwickeln, und schüttelte den Kopf. Die Aufnahmen zeigten die Fassade des 127. Reviers in ihrem aktuellen Zustand in den unterschiedlichsten Perspektiven. Der Polizeipräsident blätterte durch die Bilder, als könne man damit etwas ändern, aber wie man es auch drehte und wendete, welche Perspektive er auch betrachtete, es blieben dieselben Worte.
IN DIESEM BULLENREVIER ARBEITET EIN MÖRDER ! RACHE FÜR BENNY S.
Grzesinski seufzte. »Das hundertsiebenundzwanzigste Revier?«, fragte er und runzelte die urlaubsgebräunte Stirn.
Ernst Gennat nickte. »Heute Morgen aufgenommen.« Der Leiter der Mordinspektion hatte seine massige Gestalt auf dem Besuchersessel ausgebreitet.
»Warum hat der Reviervorsteher die Mordinspektion eingeschaltet?«, fragte Grzesinski. »Nimmt er diesen Quatsch ernst?«
»Hat er nicht«, sagte Gennat. »Die Mordinspektion hat sichselbst eingeschaltet.« Der Kriminalrat ließ den Polizeipräsidenten ein wenig rätseln, bevor er nach kurzer Pause weitersprach. »Einer meiner Mitarbeiter steigt am Wittenbergplatz von der Elektrischen in die U-Bahn. Der hat mir davon erzählt, und ich habe den Kollegen Lange gleich rausgeschickt, damit er die Bescherung fotografiert.«
Gennat deutete auf den zweiten Besuchersessel, in dem Kriminalassistent Andreas Lange saß. Grzesinskis Gesicht war immer noch ein einziges Fragezeichen.
»Ich habe mit dem Reviervorsteher telefoniert«, fuhr Gennat fort. »Er hält die Schmiererei für eine kommunistische Aktion, ungewöhnlich genug in dieser Gegend. Aber ich ...«, er zeigte auf Lange, »... das heißt: wir sind da anderer Meinung.«
»Erzählen Sie«, sagte Grzesinski in seiner nüchternen Art und wedelte ungeduldig mit der Hand. Und Gennat berichtete, dass die Mordinspektion tatsächlich einen der Beamten des besudelten Reviers als Mordverdächtigen im Visier hatte und warum das so war, angefangen bei dem tödlichen Zwischenfall im KaDeWe. Als der Name des toten Jungen fiel, Benny Singer, schüttelte der Polizeipräsident das erste Mal den Kopf, als Gennat geendet hatte, schüttelte er ihn ein letztes Mal. »Ein Schutzpolizist, der absichtlich einen Todessturz provoziert«, fragte er, einigermaßen fassungslos, »sind Sie da sicher?«
Gennat nickte. »Alle Indizien deuten darauf hin. Vor allem die gerichtsmedizinischen Befunde sind kaum anders zu erklären. Vor Gericht ist das natürlich noch zu wenig, weswegen wir die Sache bislang auch so diskret wie
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