Goldstein
sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das geht es bei der Inspektion A doch immer, oder?«
Rath hoffte, dass die Sache nicht so dramatisch war, wie er sie schilderte, aber er wusste es nicht. Er hatte die ganze kurze Nacht über kein Auge zugetan. Die Ungewissheit fraß an seinen Nerven. Was hatten Tornow und seine Leute mit Charly gemacht? Sie schienen mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Mindestens zwei Morde gingen auf ihr Konto, wahrscheinlich mehr. Er hatte mit Marlow gestern Abend über seine Theorien gesprochen. Dass einigen Polizisten offensichtlich daran gelegen war, den Unterweltkrieg zwischen Nordpiraten und Berolina anzuheizen. Und dass einige von ihnen nicht einmal vor Mord zurückschreckten. Vor mehreren Morden. Die man allesamt dem ominösen amerikanischen Gangster in die Schuhe schieben wollte, der derzeit in der Stadt unterwegs war und auf den die Presse ja auch schon Jagd gemacht hatte. Weil Stephan Fink sich hatte einspannen lassen.
Als Rath in sein Büro kam, war es immer noch keine neun; er war der Erste. Verdammt, dieser Bürohengst in der Zulassungsstelle! Hoffentlich rückte er bald mit dem Fahrzeughalter raus. Seine einzige Spur.
Irgendwann erschien Erika Voss, das hieß, es musste nun Punkt neun Uhr sein, und wenig später kam auch Gräf zur Arbeit. Rath war nicht ganz bei der Sache, er grüßte zwar, aber das war’s auch schon. Gräf nahm es als typische Montagmorgenlaune und hakte nicht weiter nach. Rath saß wie auf glühenden Kohlen, er brauchte den Fahrzeughalter, er musste irgendetwas tun. Warum ließ die Zulassungsstelle ihn nur so lange zappeln?
»Was ist denn mit dem Kollegen?«, fragte Gräf vorsichtig.
»Der kommt heute nicht, fürchte ich.«
»Krank?«
Rath antwortete nicht, und Gräf zog es vor, sich wieder um seine Arbeit zu kümmern und die Camel-Verkaufsstellen abzutelefonieren. Mit gedämpfter Stimme.
Und dann flog die Tür im Vorzimmer auf, und Rath glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.
Da stand Sebastian Tornow, lächelte in die Runde, als ob nichts geschehen wäre.
»Guten Morgen allerseits«, grüßte er, und Erika Voss grüßte zurück.
Rath hätte die Sekretärin, die den Neuen wieder einmal unverhohlen anhimmelte, eigenhändig erwürgen können. Und selbst Gräfs freundlich kollegialer Gruß ging ihm gegen den Strich.
Rath selbst knurrte nur etwas Unverständliches in den Bart. Er brauchte einen Moment, um den Schock zu verarbeiten. Oder wenigstens so weit zurückzudrängen, dass er wieder halbwegs normal reagieren konnte.
Tornow hängte Hut und Mantel auf und setzte sich an seinen provisorischen Schreibtisch. »Schönes Wochenende gehabt?«, fragte er. »Dann wollen wir mal.«
» Was wollen Sie?«, fragte Rath.
»Na, die Camel-Verkaufsstellen«, sagte Tornow und zeigte auf Gräf. »Der Kollege hat doch schon angefangen.«
»Das kann der Kollege alleine machen«, sagte Rath, »Sie kommen mit mir!«
»Wohin denn?«
»Kommen Sie!«
Rath klang so aggressiv, dass Gräf hinter seinem Schreibtisch zusammenzuckte. Selbst die Voss guckte eingeschüchtert, was bei ihr eher selten vorkam. Die beiden schienen sich zu wundern, welche Folgen zehn Minuten Zuspätkommen doch haben konnten.
Rath zog Tornow, der ihm nicht schnell genug folgte, durch die Tür nach draußen auf den Gang.
»Was ist denn los?«, fragte der.
»Nicht hier«, knurrte Rath. Auf dem Gang waren ein paar Kollegen unterwegs.
»Wir duzen uns übrigens, schon vergessen?«
»Halt die Klappe.«
Rath zerrte Tornow in die Toiletten und schloss die Tür.
Sie waren allein.
Er packte Tornow am Kragen und schleuderte ihn gegen die Fliesen.
»Wo ist sie?«, fragte er. Tornow schnappte nach Luft.
»Moment, Moment«, sagte er, »sollen wir das nicht regeln wie zivilisierte Menschen?«
»Was ist daran zivilisiert, eine Frau zu entführen?«
»Jetzt lass mich erst mal los, sonst siehst du sie nie wieder!«
Tornow hatte das leise gesagt, doch so scharf, dass Rath der Schrecken durch und durch ging. Mit einem Mal wurde ihm wieder bewusst, wer hier wen in der Hand hatte. Und wer der ohnmächtige Trottel war. Er ließ Tornow los.
»Wo ist sie?«, fragte er noch einmal, bemüht, möglichst ruhig zu klingen.
»Dass du so besorgt bist, sagt mir, dass wir gestern das Richtige getan haben.«
»Wer ist wir?«
»Tut mir leid, das geht dich nichts an.«
»Wo ist sie, verdammt noch mal?«
»Das geht dich ebenfalls nichts an. Es geht ihr – wie sagt man? – den Umständen entsprechend.« Tornow zupfte
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