Goldstein
nichts mehr. Rath betete, es möge alles so laufen wie geplant. Er musste an Charly denken, alles hing nun davon ab, ob der Plan, den er ausgetüftelt und mit Gennat besprochen hatte, funktionierte oder nicht.
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S ie wusste manchmal nicht mehr genau, wo sie sich befand. Und wer sie gerade befragte. Sie wusste nur, dass irgendjemand sie immer befragte, dass man ihr keine Pause gönnte; ein Mann, der ihr Fragen stellte, war immer im Raum, manchmal auch mehrere, was besonders anstrengend war. Immer schwerer fiel es ihr, sich zu konzentrieren. Manchmal sah sie Männer, die gar nicht da waren, immer häufiger blitzte irgendwo am Rande ihres Blickfeldes etwas auf, ein bekanntes Gesicht, ein Mann im roten Pullover, sogar Gereon hatte sie einmal kurz zu sehen geglaubt. Die Müdigkeit wollte sie zu Boden ziehen wie eine bleierne Schürze, doch man ließ sie nicht zu Boden sinken, immer wieder wurde sie gezwungen, anzukämpfen gegen das Gewicht ihrer Müdigkeit, immer wieder. Wie lange das nun schon so ging, auch das hätte sie nicht sagen können. Stunden, Tage, Wochen mochten vergangen sein.
Manchmal klebte ihr Gaumen, weil sie ihr viel zu selten zu trinken gaben. Erst wenn sie gar nicht mehr sprechen konnte, weil auch ihre Zunge ausgetrocknet war, spendierten sie ihr einen Schluck Wasser. Mittlerweile hatte sie den Bogen raus, ihren trockenen, sprachunfähigen Mund ganz gut zu simulieren, auch waren nicht alle ihre Wärter gleich streng, manche hatten etwas früher Mitleid mit ihr, bei einem war sie sogar mal eine Weile eingenickt, ohne dass er sie sofort wieder geweckt hätte. Andere aber schnauzten sie in einem fort an, schlugen mit der Faust auf den Tisch und versuchten, ihr Angst einzujagen.
Sie ließen sie nicht schlafen und gaben ihr viel zu selten zu trinken. Und auch kaum zu essen. Ansonsten aber wendeten sie keinerlei Gewalt an. Kein Mensch würde ihr glauben, was diese Kerle ihr angetan hatten, ja, dass man ihr überhaupt etwas angetan hatte; die Gewalt, der sie hier ausgesetzt war, hinterließ keinerlei Spuren.
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G oldstein festzunehmen hatte sich schließlich als einfacher herausgestellt als befürchtet. Nicht wenige der Bereitschaftspolizisten hatten wohl eine Schießerei nach Chicagoer Vorbild erwartet, irgendetwas mit Maschinengewehren, mindestens aber eine Wildwestschießerei mit rauchenden Colts.
Nichts dergleichen war geschehen, kein einziger Schuss war gefallen.
Einmal noch hatte Böhm seine Durchsage wiederholen müssen, dann hatte Rath etwas klirren gehört (wie sich später herausstellte, hatte einer der Uniformierten in den benachbarten Parzellen aus lauter Nervosität einen Gartenzwerg umgestoßen), und dann hatte Goldstein sich offensichtlich gezeigt.
»Lassen Sie die Hände hübsch oben, Herr Goldstein«, brüllte Böhm durch das Megafon.
»Gould-ßtiehn«, hörte Rath die Stimme von Abe Goldstein und hätte beinahe einen Freudenschrei ausgestoßen. Es hatte geklappt!
»Ich heiße Gouldßtiehn«, fuhr Goldstein fort, »ich bin amerikanischer Staatsbürger, und ich denke, hier kann es sich nur um ein Missverständnis handeln.«
»Ich nehme Sie fest, Herr ... Gouldßtiehn wegen des dringenden Tatverdachts der Morde an Jochen Kuschke, Gerhard Kubicki, Hugo Lenz, Rudolf Höller und Eberhard Kallweit.«
»Dann lassen Sie Ihre Leute endlich rüberkommen und mir Handschellen anlegen, sonst schlafen mir die Arme ein!«
»Sonst haben Sie nichts zu sagen?« Böhms Stimme war die Überraschung anzuhören.
»Dass ich unschuldig bin, natürlich«, sagte Goldstein.
Tornow wie auch Rath hatten dem Wortwechsel gebannt gelauscht.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie den Gangster endlich aus der Kolonie führten, in der die Abendruh nun endgültig wiederhergestellt war. Zuerst kamen die Kripoleute und die Uniformierten, die dafür gesorgt hatten, dass keine unschuldigen Schrebergärtner in die Schusslinie gerieten, dann folgten die Beamten, die Goldsteins Versteck umstellt hatten, unter ihnen auch die beiden, die den Gangster in ihre Mitte genommen hatten.
Goldstein hatte die Hände auf den Rücken gebunden und schien gar nicht einmal schlechte Laune zu haben – bis er Rath erkannte, womöglich auch Tornow, doch den ignorierte er. Bei Raths Anblick jedoch verfinsterte sich seine Miene, drückte zuerst Wut aus und dann abgrundtiefe Verachtung. Er sagte nichts, doch als sie ihn vorüberführten, blieb er stehen und spuckte vor Rath auf den Asphalt. Die beiden Bereitschaftspolizisten, die ihn in
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