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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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wundere.«
    Lange schaute hin. Kein Finger dieser Hand schien noch normal geformt zu sein, die Glieder bildeten bizarre, unnatürliche Winkel, waren zum Teil geschwollen und schillerten in allen Farben des Regenbogens.
    »Knochenbrüche an Zeige-, Mittel- und Ringfinger«, sagte Schwartz, »die ganze Hand übersät mit Hämatomen und Prellungen.«
    »Was erwarten Sie? Der Junge ist aus dem vierten Stock aufs Pflaster gefallen.«
    »Diese Verletzungen hat er sich nicht durch den Sturz zugezogen. Bei der linken Hand ist es zwar nicht ganz so schlimm, aber sie weist ähnliche Verletzungen auf.«
    »Wenn das nicht der Sturz bewirkt hat«, fragte Lange, »was war es dann?«
    »Genau das ist die Frage«, meinte Schwartz. »Und ich fürchte, die ist nicht so leicht zu beantworten. Oder anders gesagt: Wenn Sie sich mit der naheliegendsten Antwort zufriedengeben, könnten Sie gewaltige Probleme bekommen.«
    »Ich fürchte, Doktor, ich verstehe Sie schon wieder nicht.«
    »Wenn ich noch deutlicher werden soll: Meines Erachtens, und ich arbeite schon lange in diesem Beruf, lassen diese Verletzungen keine andere Schlussfolgerung zu, als dass der Mann sich dieselben vor seinem Todessturz zugezogen hat. Kurze Zeit vorher. Seit ich diese Verletzungen gestern Nachmittag entdeckt habe, versuche ich mir vorzustellen, was da passiert sein kann, und ...«
    »Na, glücklicherweise ist es ja nicht Ihre Aufgabe, Schlussfolgerungen zu ziehen«, sagte Lange und merkte sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Auf diesem Feld besaß Doktor Schwartz offensichtlich keinen Humor. Der Mediziner wirkte leicht verschnupft, als er weitersprach.
    »Nehmen Sie meine Formulierungen als dezenten Versuch, Ihnen medizinische Fachausdrücke zu ersparen, mit denen Sie nichts anfangen könnten«, sagte er und schaute Lange dabei an wie ein Professor den unwürdigsten seiner Studenten. »Jedenfalls: Wenn sich dieser Junge hier nicht kurz vor seinem Tod selbst mit einemHammer auf die Finger geklopft haben sollte, und das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht, ...«
    »... dann muss jemand anders ihm die Hände gebrochen haben«, vollendete Lange den Satz. Mit einem Mal war er hellwach und ganz bei der Sache, die Angst vor makabren Scherzen oder unangenehmen Anblicken vergessen.
    »Wie Sie schon sagten: Es ist nicht meine Aufgabe, Schlussfolgerungen zu ziehen«, entgegnete Schwartz. »Aber ich würde meinen, dem Jungen hat jemand heftigst auf die Finger getreten. Vielleicht auch geschlagen, mit einem harten, stumpfen Gegenstand. Und dann hat der arme Kerl wohl den Halt verloren. Mit solchen Brüchen hält sich kein Mensch mehr irgendwo fest, nicht einmal in Todesangst, das ist rein physikalisch gar nicht möglich.« Schwartz schwieg, und Lange begann zu verstehen, warum der Gerichtsmediziner ihm das nicht hatte schriftlich geben wollen.
    »Das heißt also, wir haben es hier aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht mit einem Unfalltod zu tun ...«
    »... sondern mit Mord. Richtig.« Schwartz räusperte sich. »So würde ich das jedenfalls nennen, wenn jemand einen anderen mit Gewalt und Absicht in die Tiefe befördert.«
    »Und wie es aussieht, ist dieser Jemand Polizist ...«
    Schwartz schaute ungerührt. »Das ist jetzt Ihre Schlussfolgerung, nicht meine.«
    15
    N och jemand ohne Fahrschein?«
    Charly zückte ihre Monatskarte und zeigte sie dem schnauzbärtigen Schaffner. Draußen vor dem Fenster zogen die Fassaden der Warschauer Straße vorüber. Die Straßenbahn war voll; alle möglichen Menschen, die zur Arbeit wollten, drängten sich im Wagen.
    Wie immer, wenn sie mit der Elektrischen fuhr, hatte Charly ein Buch eingepackt, Heymanns Grundzüge der Strafrechtslehre lagen aufgeschlagen auf ihrem Schoß, doch hatte sie noch keine einzige Zeile gelesen, nicht einmal einen Blick hineingeworfen, sie schaute nur aus dem Fenster und dachte nach, viel zu viele Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, als dass sie sich auf irgendein Buch hätte konzentrieren können.
    Was für ein schreckliches Frühstück! Gereons schlechte Laune. Charly hatte seiner Geschichte nur mit halbem Ohr zugehört, sein Auto kaputt, demoliert von irgendwelchen Vandalen im Wedding, mitten in der Nacht hatte er es noch abschleppen und in eine Werkstatt bringen lassen müssen. Sie hatte nicht viel verstanden von dieser Geschichte, nur, dass das wohl seine Entschuldigung sein sollte dafür, dass er gestern viel zu spät nach Hause gekommen war, ohne noch einmal anzurufen. Und dass er sie heute nicht

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