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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Elektrische kroch aus dem Schatten der Ringbahnbrücke auf die Möllendorfstraße und überholte einen ganzen Schwarm Radfahrer, der den Berg hoch strampelte, die Armee der Arbeiter auf dem Weg zu den Lichtenberger Fabriken. Charly wurde mit einem Mal bewusst, wie sehr sie das Gefühl genoss, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Das hatte sie schon am Alex so empfunden, als sie in der Mordinspektion als Stenotypistin gearbeitet und sich das Geld für ihr Studium verdient hatte. Dagegen das Jahr vor den Prüfungen, das sie fast ausschließlich an der Uni und über ihren Büchern verbracht hatte ... Sie war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob Heymanns Angebot wirklich so attraktiv war, wie es sich im ersten Moment anhörte. Andererseits würde ihr dieses halbe Jahr Möglichkeiten eröffnen, die sie sonst niemals bekommen würde, schon gar nicht als Frau, würde sie stur weiter ihren juristischen Vorbereitungsdienst absolvieren.
    Tja, Fräulein Ref. iur. Charlotte Ritter, was sollst du tun?
    Die Bahn war mittlerweile auf der Normannenstraße angelangt, gleich war sie am Ziel. Charly klappte das Buch zu und steckte es zurück in ihre Tasche. Heymanns Strafrechtslehre. Warum hatte sie nur solche Angst, mit Gereon über das Thema zu reden? Weil sie spürte, dass es nicht nur um dieses halbe Jahr ging, sondern um alles? Um die Entscheidung, was aus ihnen werden sollte? Das war es wohl. Und sie hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache.
    16
    I hre Augen blinzelten und suchten nach ihm. So war sie beinah jeden Morgen aufgewacht, seit sie ihn kannte: sein Gesicht das Erste, was sie vom Tag gesehen hatte. Meistens hatte er schon dagesessen, mit einer Kippe auf dem Zahn, und in den neuen Tag geschaut. Umso schmerzhafter wurde ihr nun bewusst, dass er nicht da war, dass er nie mehr da sein würde, um sie am Morgen anzulächeln und zu fragen: Frühstück? und ihr seine Zigarette zu reichen.
    Mit einem Mal wirkte das Tageslicht, das von draußen hereinfiel, so schmutzig und grau wie die blinden Fensterscheiben hier oben, und der Tag, der vor ihr lag, kam ihr genauso bitter vor wie der üble Geschmack der Nacht, der noch auf ihrer Zunge lag.
    Sie setzte sich auf und zog die Enden der Jacke enger um die Schultern. In Wohnung A hatte sie keine Decke und keinen Schlafsack, in den sie sich einwickeln konnte, und außerdem zog es hier wie Hechtsuppe. Wohnung A hatten sie immer nur im Notfall benutzt, wenn sich gerade keine bessere Bleibe fand. Alex schlief nicht gerne hier, viel zu viel Müll lag herum, überall knisterten Scherben unter den Schritten, dann die Ratten, die immer unverschämter wurden und von Mal zu Mal mehr Räume für sich beanspruchten. Kaum eine Fensterscheibe war noch heil, in manchen Nächten, je nachdem wie der Wind stand, konnte man sogar die Tiere vom Viehhof brüllen hören, das letzte Aufbäumen der Todgeweihten, das Alex nicht schlafen ließ.
    Wohnung A war eine stillgelegte Achsenfabrik, schon vor über einem Jahr aufgegeben, die nur deswegen noch stand, weil ihr Besitzer nicht einmal mehr das Geld für den Abriss aufbringen konnte. Leider war das mittlerweile kein großes Geheimnis mehr, eine ganze Menge Volk trieb sich hier herum, das eine kostenlose Bleibe suchte und nicht unter der Brücke schlafen wollte. Auch deshalb war Alex nicht gerne hier, schon gar nicht ohne Benny. Doch nach dem Schock letzte Nacht hatte sie eine Zuflucht gebraucht, hatte sich vor diesem Albtraum, zu dem ihr Leben geworden war, irgendwo an einem halbwegs sicheren Ort in den Schlaf retten müssen.
    Den Anblick von Kallis Leiche würde sie so schnell nicht vergessen. Sie hatte den Mann, der zufällig zu ihrem Hehler geworden war, nie leiden mögen, aber nun empfand sie fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen, dass sie seine Kasse hatte plündern wollen. Wer zum Teufel hatte den armen Kerl so zugerichtet? Und warum? Hatte jemandem das Geld in der ollen Registrierkasse nicht gereicht? Oder hatte Kalli versucht, die Berolina übers Ohr zu hauen, und der rote Hugo hatte sich gerächt? Den ganzen langen Weg durch die Nacht, bevor sie endlich in der Roederstraße angekommen war, hatte Alex über diese Fragen nachgedacht. Bis sie irgendwann zu müde zum Nachdenken war und nur noch schlafen wollte.
    Auf ihrem Heimweg war sie keinem Menschen mehr begegnet, auch Kralle, dieser Ratte, glücklicherweise nicht. Der Drecksack hatte ein Auge auf sie geworfen, und einmal hatte sie ihn nur noch mithilfe ihres Messers abwimmeln können. Aber

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