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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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die Gerichtsmedizin immer nur in Begleitung besucht, als Anhängsel eines ermittelnden Kommissars, was ihm jedes Mal die Möglichkeit gelassen hatte, etwas abseits zu stehen und nicht so genau hinzuschauen. Eine Möglichkeit, von der er regelmäßig Gebrauch gemacht hatte. Aber jetzt musste er hineingehen und sich dem, was hinter diesen Mauern wartete, stellen. Und das waren ein zynischer Mediziner und aufgeschnittene Leichen.
    Er holte noch einmal tief Luft, dann ging er hinein in die geflieste Welt des Leichenschauhauses. Der Pförtner nickte nur, als der Kriminalassistent seinen Ausweis zeigte.
    Seit gestern Abend schon zerbrach Lange sich den Kopf darüber, warum Schwartz ihn persönlich herbestellt hatte, warum er nicht einfach das gerichtsmedizinische Gutachten in die Hauspost gesteckt hatte. Dann würde es jetzt bereits auf seinem Schreibtisch in der Burg liegen, er könnte es bei einer Tasse Kaffee in aller Ruhe studieren und zu den Akten heften. Eigentlich hatte er gehofft, sich in diesem Fall den Gang ins Leichenschauhaus ersparen zu können. Der Junge war aus dem vierten Stock in die Tiefe gefallen und gestorben, welche Rolle spielte es da, welche Knochen alle gebrochen und welche inneren Organe verletzt waren? Reichte doch, wenn das in den Akten stand, warum musste der ermittelnde Beamte sich das auch noch anschauen? Wahrscheinlich wollte Schwartz nur ein bisschen Geisterbahn mit ihm spielen und den jungen, grünen Kriminalassistenten schockieren, jedenfalls erzählten die Kollegen, dass der Gerichtsmediziner eine Vorliebe für solche Späße habe, gerade bei jungen Beamten.
    Lange öffnete die Schwingtür zum Obduktionssaal, den Blick auf den Boden gerichtet und innerlich darauf eingestellt, gleich abgeschnittene Gliedmaßen oder Köpfe zu sehen, eine aufgeschnittene Bauchhöhle oder wenigstens einen aufgeklappten Brustkorb. Das Schlimmste, was er jemals in der Gerichtsmedizin gesehen hatte, war ein Kopf, dem die sauber abgetrennte Schädeldecke fehlte, was den Toten aussehen ließ wie einen jener tönernen Bierhumpen mit Bismarckantlitz, deren Deckel als Pickelhaube gestaltet waren, als Pickelhaube zum Hochklappen. Lange hatte weggucken können damals, glücklicherweise, aber der ermittelnde Kommissar hatte hingucken müssen. So wie er gleich würde hingucken müssen. Der ermittelnde Kriminalassistent.
    Schließlich wagte er einen Blick nach oben und war überrascht. Kein Horrorkabinett. Auf dem Obduktionstisch lag zwar eine Leiche, aber die war komplett mit einem Laken zugedeckt. Nicht einmal ein paar ekelhafte Präparate aus seiner Sammlung – seine Einmachgläser , wie die Kollegen sie nannten – hatte der Gerichtsmediziner aus dem Büro geholt und hier unten zur Schau gestellt. Doktor Schwartz saß an seinem Schreibtisch und notierte gerade etwas. Als er Lange erblickte, stand er auf und streckte ihm die Hand entgegen.
    »Ah, da sind Sie ja. Auch ein Frühaufsteher?«
    »Gezwungenermaßen.«
    »Meine Assistentin hat gerade Kaffee gekocht. Möchten Sie einen?«
    »Danke.«
    »Danke ja oder danke nein?«
    »Danke nein.«
    »Schade. Ihnen entgeht der beste Kaffee Berlins. Weckt sogar Tote wieder auf, sagt man. Schade nur, dass die ihn nicht mehr trinken können.«
    Lange quittierte den müden Witz des Gerichtsmediziners mit einem zaghaften Lächeln. Schwartz, der keine Miene verzogen hatte, schob den Kriminalassistenten zum Obduktionstisch und zeigte auf die verdeckte Leiche. »Jedenfalls schön, dass Sie hier sind, ich möchte Ihnen etwas zeigen, eine ... wie soll ich sagen ... etwas merkwürdige Sache. Das kann ich nicht einfach so ins Gutachten schreiben, ohne mit Ihnen zuvor darüber gesprochen zu haben.«
    »War der Sturz nicht todesursächlich, oder warum haben Sie mich herbestellt?«
    Schwartz schüttelte den Kopf. »Nein, nein, daran besteht gar kein Zweifel. Durch den Aufprall hat er sich so schwere Verletzungen zugezogen, dass die inneren Blutungen den Brustkorb haben volllaufen lassen. Der arme Junge ist sozusagen an seinem eigenen Blut erstickt. Oder genauer: ertrunken.«
    Lange schluckte.
    »Wie alt war er denn?«
    »Tatsächlich noch sehr jung. Irgendwas zwischen vierzehn und siebzehn, würde ich schätzen. Aber das ist es nicht, was ich mit Ihnen besprechen wollte.« Schwartz fasste einen Zipfel des Lakens,und Lange befürchtete das Schlimmste. Aber der Gerichtsmediziner legte nur die rechte Hand des Toten frei. »Das ist es«, sagte er und zeigte auf die Hand, »worüber ich mich so

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