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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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in dieser Nacht schien er sich nicht in der Roederstraße herumzutreiben. Überhaupt hatte Alex nur wenige Räume besetzt vorgefunden. Als sie angekommen war, musste es schon weit nach Mitternacht gewesen sein, und alle hatten geschlafen. Alex hatte sich einen ihrer üblichen Plätze gesucht, möglichst weit weg von den Treppen, hatte sich mit ihrer Jacke zugedeckt und die Mütze unter den Kopf geschoben. Und trotz allem, was in ihrem Kopf rotierte, war sie kurz darauf eingeschlafen. Und hatte mit Benny getanzt.
    Sie streckte ihre Arme zur Zimmerdecke und gähnte. Allzu lange konnte sie nicht geschlafen haben, sie fühlte sich wie gerädert. Ganz schön hart auf diesem Boden. Sie musste unbedingt noch einmal zurück zu Wohnung B und ihren Schlafsack holen und ein paar andere Dinge. Und dann eine neue Bleibe suchen. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie noch nicht. Benny hatte immer gewusst, wo gerade Wohnungen leer standen oder ganze Häuser, wo eine Laube verwaist war, oder in welcher aufgegebenen Fabrik man ohne Gefahr unterkommen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wo er diese Dinge aufgeschnappt hatte, aber irgendwie hatte er es immer gewusst. Alex dagegen hatte keinen blassen Schimmer, wo sie mit der Suche überhaupt beginnen sollte. Na ja, zur Not blieb immer noch die Fabrik. Erst einmal.
    Sie hatte verdammt noch mal mehr als genug Dinge, um die sie sich kümmern musste, dennoch gelang es ihr einfach nicht aufzustehen, ihr Körper fühlte sich so schwer und unbeweglich an, als wäre er aus Blei.
    Was für ein beschissener Tag! Was für eine beschissene Zeit! Was für ein beschissenes Leben!
    Etwas schabte über den Boden, die Tür knarrte in den Angeln und schob einen Berg Gerümpel vor sich her. Alex war sofort hellwach, sie setzte sich auf und suchte nach dem Schnappmesser in ihrer Tasche, fühlte sich gleich sicherer, als ihre Finger es ertasteten. Wenn es Kralle sein sollte, das blöde, aufgeblasene Schwein, dann würde er eine unschöne Überraschung erleben, der Fettsack.
    Im Türspalt erschien ein strubbeliger, dunkelhaariger Schopf über einem vom Schlaf zerknautschten Gesicht.
    »Morgen Alex, hast du vielleicht ’ne Kippe für mich?«
    Alex ließ den Messergriff los und sank wieder zurück in ihre Ecke. »Vicky! Hast mich ganz schön erschreckt. So hier reinzuschleichen. Dachte schon, du wärst Kralle oder irgend so’n Arschloch.«
    »’tschuldige. Hab was gehört und dachte, ich guck mal nach. Hab dich gar nicht gesehen gestern Abend bei den anderen.« Vicky kam zu ihr hinüber. Sie hatte ein schönes Gesicht unter ihrer Strubbelfrisur und große Augen, die sie, selbst wenn sie so verschlafen war wie jetzt, immer aussehen ließen, als staune sie gerade Bauklötze. Über was auch immer.
    »Bin erst mitten in der Nacht gekommen«, sagte Alex. »Wer ist denn alles hier?«
    »Och, Fanny, Kotze, Felix und noch ein paar andere. Nicht viele. Die meisten sind schon wieder weg. Wo ist denn Benny?«
    Alex war für einen Moment sprachlos. Irgendwie war sie davon ausgegangen, die ganze Welt müsse von Bennys Tod wissen, wenigstens aber ihre Freunde, wenn man die Leute in der Roederstraße denn so nennen konnte. Aber natürlich wusste Vicky nichts, wie sollte sie? Alex hatte noch niemandem davon erzählt, seit Bennys Tod hatte sie mit keiner Menschenseele gesprochen – außer mit Kalli. Natürlich fragte Vicky nach Benny, Alex war immer mit ihm zusammen hier aufgekreuzt, er war immer in ihrer Nähe gewesen, jeden verdammten Tag in den letzten Monaten.
    »Hast du’s denn noch nicht gehört?«, sagte Alex und fühlte ihre Stimme im Hals kratzen. »Die Sache im KaDeWe? Benny ist tot.«
    »Das wart ihr?« Die Nachricht von Bennys Tod schien Vicky alle Kraft aus den Beinen genommen zu haben. Die Knie knickten ihr weg, sie rutschte mit dem Rücken die Wand hinunter und setzte sich neben Alex. »Verdammt«, sagte sie, »ausgerechnet Benny, der immer so vorsichtig war. So eine Scheiße!«
    Sie schlug mit der Faust gegen die Wand, einmal und noch einmal. Und dann fing sie tatsächlich an zu weinen, ganz leise und stumm. Alex nahm das zitternde Mädchen in den Arm. Wie sollte sie Vicky trösten? Was sollte sie ihr sagen? Das, was sie selbst kaumglaubte? Dass die Bullen Benny umgebracht hatten? Als sei er eine Ratte, ein Ungeziefer, ein Schädling? Alex konnte sich vorstellen, dass es eine Menge Leute gab, nicht nur Bullen, die Menschen wie sie und Benny und Vicky am liebsten behandeln würden wie Ungeziefer. Einfach weg

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