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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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zur Arbeit bringen konnte, sie also zeitig aufbrechen musste. Die S-Bahn brauchte keine zwanzig Minuten bis zur Warschauer Brücke. Den Rest aber musste sie mit der Elektrischen fahren, und die 90 zockelte eher gemütlich übers Pflaster, vor allem hielt sie an jedem Briefkasten.
    Das Geheimnis schwelte in ihr, auch jetzt noch, wo sie längst wieder allein war. Beim Frühstück hatte sie gedacht, er müsse es ihr ansehen, an der Nasenspitze, in ihren Augen, irgendwo, aber Gereon hatte nichts gemerkt, der Ärger über sein Auto hatte ihn voll und ganz in Anspruch genommen. Und sie hatte ihn reden lassen, hatte nichts gesagt. Nicht einmal von den Tumulten an der Universität hatte sie erzählt, so sehr hatte sie sich davor gehütet, auch nur in die Nähe dieses Themas zu kommen. Am Abend hatte sie die Sache mit ihm besprechen wollen, ganz in Ruhe bei einem Glas Wein, aber Gereon hatte so lange auf sich warten lassen, dass sie schließlich ins Bett gegangen war. Jetzt war sie beinah froh darüber. Was sollte sie ihm erzählen, wo sie doch selbst noch nicht wusste, was sie überhaupt wollte?
    Ihre Mittagspause gestern. Heymann hatte sie sprechen wollen, persönlich, hatte ihr sogar einen Wagen geschickt, und sie war zur Universität gefahren, ein bohrendes Gefühl banger Erwartung im Herzen. Was konnte so wichtig sein, dass ihr alter Strafrechtsprofessor sie von einem Chauffeur abholen ließ? Irgendetwas lag in der Luft, als sie in der Dorotheenstraße aus dem Wagen stieg, eine feindselige Stimmung, es wurde mal wieder politisiert, lautstark und in Form von Liedern. Die Fahne hoch ... hörte sie eine Gruppe Demonstranten anstimmen, ein paar Kommunisten versuchten mit der Internationale dagegen anzusingen, eine abscheuliche Kakophoniewar das Ergebnis. Charly schaffte es, unbehelligt durch den Nordeingang ins Gebäude zu gelangen, doch auch drinnen hatten sich die Demonstranten schon breitgemacht. Studenten in braunen Uniformen, die sich am Schwarzen Brett zu schaffen machten, Tafeln und Mitteilungen abrissen. Die wenigen Kommilitonen, die einschritten und etwas dagegen tun wollten, längst nicht alles Kommunisten, wurden niedergeknüppelt, die Nazis hatten Stöcke mitgebracht.
    Als Charly endlich das Büro ihres Lieblingsprofessors erreicht hatte, war auch draußen die Prügelei losgegangen. Heymann hatte am Fenster gestanden und den Kopf geschüttelt. Fassungslos. Die altehrwürdige Friedrich-Wilhelms-Universität als Schauplatz für politische Pöbeleien, das war zu viel für den alten Mann und bekennenden Preußen. Gerade in der juristischen Fakultät wurde es mit den Nazis immer schlimmer. Bei einem Erstsemesterjuristen konnte man mittlerweile fast schon per se davon ausgehen, dass er ein Hitler-Anhänger war. Je jünger desto schlimmer. Vor Gewalt schreckten die braunen Studenten nicht zurück, im Gegenteil, sie legten es geradezu darauf an. Studentenunruhen hieß so etwas dann in den Zeitungen.
    Die Tumulte und der Lärm draußen vor dem Fenster hatten sie so aus der Fassung gebracht, dass sie das Anliegen ihres Professors, auf das er schließlich zu sprechen gekommen war, zunächst gar nicht richtig verstanden hatte. Ein halbes Jahr? Und er wollte tatsächlich sie! Natürlich hatte sie sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten, und Heymanns Reaktion darauf hallte jetzt noch in ihr nach. »Überlegen Sie nicht zu lange, Fräulein Ritter, solch eine Chance bietet sich Ihnen so schnell nicht wieder.«
    Und über diese Chance hatte sie mit Gereon reden wollen. Reden müssen! Lange konnte sie Heymann nicht warten lassen, das wusste sie, dennoch konnte sie ihm nicht zusagen, ohne mit Gereon gesprochen zu haben. Und sich die Sache selbst noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Ihre Pläne sahen eigentlich anders aus. Die Arbeit bei der Polizei, das war ihr Ziel gewesen, immer schon. Nur deshalb hatte sie das Jurastudium doch aufgenommen: um irgendwann als vollwertige Beamtin des Höheren Dienstes bei der preußischen Kriminalpolizei arbeiten zu können. Nur deshalb hatte sie sich noch einmal hingesetzt und wie ein Ochse gebüffelt, als sie durch die erste Staatsprüfung gerasselt war. Nicht bestanden , so derlapidare Kommentar der ausschließlich aus Männern bestehenden Prüfungskommission. Sonst nichts, keine weitere Begründung. Ein halbes Jahr später hatte sie sich der Kommission noch einmal gestellt, und die Hürde endlich genommen, wenn auch nicht summa cum laude. Ausreichend. Egal. Hauptsache durch.
    Die

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