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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Finger sehen, muss doch wissen, wer mit einem im Haus lebt.«
    »Dann sind Sie offensichtlich kein Kommunist ...«
    »Seh ick so aus?«
    »Die Schwester, wissen Sie zufällig auch, wie die heißt?«
    »Die heeßt Alex. Also: eigentlich Alexandra. Aber det müsste doch allet in Ihre Akten stehen, wa?«
    Er hielt sie immer noch für eine Mitarbeiterin des Jugendamtes. Charly ließ ihn in dem Glauben. »Natürlich«, sagte sie und lächelte, »aber sehe ich aus, als schleppte ich meinen Aktenschrank mit mir herum?«
    Die Kopernikusstraße war nicht die beste Wohngegend, Mietskaserne reihte sich an Mietskaserne, von einigen Fassaden bröckelte bereits der Stuck. Das Haus, in dem Helmut Reinhold wohnte, war das einzige, dessen Front man vor nicht allzu langer Zeit, jedenfalls nach dem Krieg, ein paar Eimer frische Farbe spendiert hatte. Vor wenigen Stunden hatte Charly hier Sturm geklingelt, ohne dass sich etwas geregt hatte in der Wohnung, und nun öffnete ihr gleich nach dem ersten Klingeln eine Frau, die sie aus müden Augen anschaute. Aus der Tür wehte der Dunst von gebratenen Zwiebeln.
    »Guten Tag, ich möchte zu Helmut Reinhold«, sagte Charly. »Bin ich da richtig?«
    Die Frau schaute sie von oben bis unten an, dann nickte sie. »Mein Mann isst aber gerade«, sagte sie, »was wollen Sie denn von ihm?«
    »Es geht um seine Schwester«, sagte Charly. »Nur ein paar Fragen, dauert auch nicht lange.«
    Wo der Rest der Familie Reinhold untergekommen sein mochte, hatte der redselige Hausmeister ihr nicht sagen können, dafür aber die Adresse des älteren Bruders, und Charly war dorthin zurückgekehrt, wo sie heute Morgen schon einmal vergeblich geklingelt hatte. Zuvor hatte sie sich in einem kleinen Café am Boxhagener Platz einen Tee gegönnt und ein bisschen durch die Zeitungen geblättert. Die tödliche Schießerei gestern in der Frankfurter Allee beherrschte die Schlagzeilen im Lokalteil. Von einem Mädchen, das aus dem Amtsgericht Lichtenberg entlaufen war, keine Zeile.
    »Sie wollen mich sprechen?«
    Charly schaute auf. Ein kräftiger Mittzwanziger stand in der Tür. Helmut Reinhold ließ sie ebenso wenig in die Wohnung wie zuvor seine Frau.
    »Sie sind der Bruder von Alexandra Reinhold?«, fragte Charly.
    Der Mann nickte. »Deswegen sind Sie doch hier, sagt Martha.« Er musterte Charly misstrauisch. »Von der Fürsorge, was? Aber den Weg hätten Sie sich sparen können. Ich habe Alex seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.«
    »Sie soll auf der Straße leben ...«
    »Dann suchen Sie Alex auch da. Und nicht bei mir.«
    »Könnte sie bei Ihren Eltern untergekommen sein ...«
    »Phh! Typisch Fürsorge! Keine Ahnung von nischt!« Auch Helmut Reinhold konnte eine fragende Frau an der Türschwelle offensichtlich nur mit dem Jugendamt in Verbindung bringen. Er schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, warum Alex sich seit Monaten auf der Straße rumtreiben muss? Weil mein lieber Herr Vater sie vor die Tür gesetzt hat, ein paar Tage vor Weihnachten.«
    »Warum nehmen Sie Ihre Schwester dann nicht auf?«
    »Wenn ich wüsste, wo sie wäre. Aber zu mir kommt sie nicht, dazu ist sie zu stolz.«
    »Sie hören sich an, als seien Ihnen Ihre Eltern herzlich gleichgültig.«
    »Ich weiß nicht, was Sie das angeht«, sagte Helmut Reinhold.
    »Nur insofern es Ihre Schwester angeht.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Seit meiner Hochzeit hat mein Vater kein Wort mehr mit mir geredet. Ich habe meine Eltern eingeladen, sie sind nicht gekommen. Muttern hat eine Karte geschrieben, das war alles. Seine Unterschrift fehlte.«
    »Ihre Eltern sind obdachlos, ist es da nicht an der Zeit, sich zu versöhnen?«
    Er lachte bitter. »Ich war bei ihnen draußen, in dieser Kolonie am Müggelsee, und wollte ihnen anbieten, für eine Weile bei Martha und mir unterzukommen, aber ...« Er verstummte. »Jetzt kann er mir jedenfalls gestohlen bleiben!«
    »Könnte es denn sein, dass Alexandra bei Ihren Eltern untergekommen ist?«
    »Was weiß ich?« Helmut Reinhold zuckte unwirsch die ­Achseln. »Hören Sie, ich dachte, das wird ein kurzes Gespräch. Ich würde jetzt gern weiteressen. Muss gleich wieder auf die Schicht.«
    Charly konnte nicht einmal antworten, da schlug die Tür schon ins Schloss. Sie hätte noch viele Fragen stellen können, nach demverschollenen Bruder, dem Mordfall Beckmann, nach Freunden und Bekannten von Alex, bei denen sie eventuell untergeschlüpft sein könnte, doch die geschlossene Wohnungstür zeigte ihr unmissverständlich,

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