Goldstein
dass es zwecklos war, hier noch einmal zu klingeln. Sie stieg das hölzerne Treppenhaus wieder hinab. Wenigstens wusste sie jetzt, wo sie Alex’ Eltern finden konnte.
Sie fuhr mit der U-Bahn zur Magdalenenstraße. Der Weg zum Wagnerplatz hoch erschien ihr steiler als sonst, das Gehen mühsamer. Alles hatte sich verändert seit gestern, das Gebäude des Amtsgerichts wirkte fremd und abweisend auf sie. Das Fenster in der ersten Etage stand offen; einen Augenblick glaubte sie, es sei seit gestern gar nicht mehr geschlossen worden. Fast fühlte sie sich, als betrete sie das Gebäude zum allerersten Mal, wie damals, vor einem halben Jahr, als sie mit klopfendem Herzen durch die Tür getreten und ihr Blick gleich auf eine marmorne Schrifttafel in der Eingangshalle gefallen war, die sogar die Revolution überlebt hatte: Füsse reinigen/Rauchen verboten/Spucknäpfe benutzen . Drei Befehle, in Stein gemeißelt, sagten jedem Besucher unmissverständlich, welcher Ton in diesem Gebäude angeschlagen wurde. Charly hatte sich hier eigentlich nie richtig wohlgefühlt, Weber sei Dank, der diesen Ton perfekt beherrschte.
Charly drängte sich an ein paar Leuten vorbei und lief die Treppen hoch. Sie wollte die Neuigkeiten loswerden, sich vor ihrem Chef wenigstens ein kleines Stück rehabilitieren. Immerhin war sie Alex Reinhold auf der Spur, und das ließ sie wieder Hoffnung schöpfen, zum ersten Mal seit dem Zwischenfall gestern Nachmittag.
Weber schaute überrascht, als sie eintrat. »Fräulein Ritter? Ich habe Sie doch beurlaubt.«
»Eine gute Nachricht, Herr Justizrat. Ich wollte Sie Ihnen gleich mitteilen.«
Er schaute sie misstrauisch an. Dass sie hier wieder auftauchte, nur einen Tag nach ihrem Missgeschick, schien ihm nicht zu passen. » Sie haben mir etwas mitzuteilen? Ich lasse seit Stunden hinter Ihnen hertelefonieren, um Ihnen etwas mitzuteilen!«
»Ich war den ganzen Morgen nicht zuhause.«
»Das habe ich gemerkt.«
»Aber das ist jetzt auch egal.« Charly musste sich zusammenreißen, um nicht zu euphorisch zu klingen. »Ich habe die Identität des flüchtigen Mädchens; ich denke, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich ... bis wir sie aufgespürt haben. Sie heißt Alexandra Reinhold und ist ...«
Weber unterbrach sie. »Das ist ja prima, Sie wissen also, wie das Mädchen heißt«, sagte er in einem Tonfall, der jede Euphorie zerbröseln ließ wie trockenes Laub. »Dann will ich Ihnen, wo Sie sich schon einmal herbemüht haben, etwas anvertrauen: Ich weiß sogar, was das flüchtige Mädchen angestellt hat.«
»Wie?« Charly war überrascht.
Weber schüttelte den Kopf, als könne er ihre Begriffsstutzigkeit kaum fassen. »Mein liebes Fräulein Ritter ...« Sie hasste es, wenn er sie so ansprach, diese Mischung aus geheucheltem Mitleid und Verachtung, und Weber hörte sich so an, als wisse er das. Er schüttelte den Kopf zu diesen Worten und wiederholte sie noch einmal, im Tonfall eines Irrenarztes, der zu seiner Patientin spricht. »Mein liebes Fräulein Ritter ... Das Mädchen, das Ihnen gestern entkommen ist, scheint die zweite Hälfte des KaDeWe-Einbrecher-Duos zu sein. Sie wissen doch? Am Sonnabend. Der tote Junge.«
Charly spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt, sie hörte zu, wie Weber weitersprach, wie er noch sagte, dass der provisorische Verband, den das Mädchen um die Handwunde gewickelt hatte, bevor der Polizeisanitäter das Provisorium durch eine saubere Mullbinde ersetzte, dass dieser Verband oder vielmehr dieser Stofffetzen just aus dem Hemd gerissen worden sei, das der tote Einbrecher getragen hatte. Man habe den Fetzen aus dem Ascheimer des einundachtzigsten Polizeireviers ziehen müssen, wo er bereits gelandet war, doch der Verdacht hatte sich bestätigt. Daraufhin habe die Kriminalpolizei am Alex weitergehende Untersuchungen angestellt und herausgefunden, dass die Blutgruppe des Mädchens mit dem Blut übereinstimmte, das die KaDeWe-Einbrecher an den Schmuckvitrinen hinterlassen hätten. Alles deutete darauf hin, dass der Polizei durch Zufall eine Unbekannte in die Hände gefallen sei, nach der in der ganzen Stadt gefahndet werde, und dass dieser Unbekannten ausgerechnet im Amtsgericht Lichtenberg die Flucht geglückt sei, was natürlich kein gutes Licht auf die Behörde werfe. Charlyhörte das alles, doch sie fühlte sich, als stünde sie neben sich, und Weber redete mit einer anderen. »Jedenfalls«, schloss der Justizrat, »möchte
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