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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Menschen, um ihnen bei der Arbeit zuzusehen. Sogar Matthews Mutter kam langsam die Treppe herunter, eine Hand auf dem Geländer. Offenbar hatte sich ihr Gesundheitszustand nicht gebessert.
    Schließlich schlug der Dschinn unter spontanem donnerndem Applaus den letzten Nagel ein. Eine halbe Stunde lang schüttelte er, wie ihm schien, jedem in New York lebenden Syrer die Hand. Danach gingen die Leute im Eingang umher und blickten hinauf zu der Decke. Viele lachten und streckten die Hände über die Köpfe, als wollten sie die Berge berühren. Ein paar ältere Mieter klagten über Schwindelgefühle und zogen sich zum Abendessen in ihre Wohnungen zurück. Die Kinder liefen mit nach oben gerichteten Gesichtern herum und stießen mit den Beinen ihrer Eltern zusammen. Schließlich verschwand einer nach dem anderen, bis Arbeely und der Dschinn allein waren.
    Plötzlich fühlte sich der Dschinn bis auf die Knochen erschöpft. Es war vorbei, vollendet. Er blickte hinauf zu seinem Meisterwerk, versuchte herauszufinden, was er damit erreicht hatte.
    »Alle lieben sie«, sagte Arbeely neben ihm. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du eine eigene Werkstatt haben wirst.« Dann bemerkte er den Gesichtsausdruck des Dschinns. »Was ist los?«
    »Mein Palast«, sagte der Dschinn. »Er ist nicht darauf.«
    Arbeely schaute sich rasch um, aber sie waren allein. »Du kannst ihn noch hinzufügen«, flüsterte er. »Nenn es eine künstlerische Laune oder so.«
    »Du verstehst nicht«, sagte der Dschinn. »Ich habe ihn absichtlich weggelassen. Es ist nur gut, dass du ihn nicht sehen kannst, dass niemand ihn sehen kann. Aber
ich
sollte ihn sehen. Er sollte dort sein.« Er deutete auf eine Stelle ungefähr in der Mitte der Decke. »Jenseits von diesem Grat. Das Tal sieht leer aus ohne meinen Palast.«
    In Arbeelys Kopf bahnte sich eine Erkenntnis an. »Du willst sagen, dass das eine
Landkarte
ist?«
    »Natürlich ist es eine Landkarte. Was hast du denn geglaubt?«
    »Ich weiß nicht – ein Werk der Phantasie.« Er blickte mit neuer Wertschätzung hinauf. »Und sie ist präzise?«
    »Ich war über zweihundert Jahre lang in dieser Gegend. Ich kenne jeden Zentimeter. Ja, sie ist präzise.« Er deutete auf einen Berg in der Ecke neben dem Treppenaufgang. »In diesem Berg habe ich einmal eine Silbermine abgebaut. Eine Truppe Ifrits wollte mir das Silber stehlen. Ich habe sie in die Flucht geschlagen, was allerdings einen Tag und eine Nacht gedauert hat.« Sein Finger wanderte zu einer schmalen Ebene tief im Schatten. »Dort bin ich auf eine Karawane gestoßen, die nach al-Scham unterwegs war. Ich bin ihr bis zur Oase Ghuta gefolgt. Das ist das Letzte, woran ich mich aus meinem früheren Leben noch erinnern kann.«
    Arbeely hörte ihm bekümmert zu. Er hatte gehofft, dass sich der Dschinn mittlerweile irgendwie getröstet hatte, mit der Arbeit, mit dem Leben, das er sich aufgebaut hatte, mit den nächtlichen Wanderungen, die Arbeely immer noch Herzklopfen verursachten. Aber wie konnte das alles ein Ersatz sein für das Leben, das er jahrhundertelang geführt hatte? Er legte seinem Partner die Hand auf die Schulter. »Komm, mein Freund«, sagte Arbeely. »Wir machen eine Flasche Arrak auf und trinken auf deinen Erfolg.«
    Der Dschinn ließ sich nach draußen in die abendliche Dämmerung führen. Und in ihrem Rücken schlich Matthew die Treppe herunter und starrte erneut zur Decke hinauf, seine Augen groß vor Staunen über das, was er gerade gehört hatte.

    Pessach rückte näher, und das tägliche Angebot in der Bäckerei der Radzins änderte sich: Statt geflochtener Zöpfe gab es flache Matzen, statt Rugelach Makronen. Doch trotz der Auswahl für Pessach und umfangreicher Bestellungen gab es in der Bäckerei jämmerlich wenig zu tun. Da Mr. Radzin nicht wollte, dass seine Angestellten einen müßigen Eindruck machten, mussten sie so langsam wie möglich arbeiten und jede Aufgabe absurd in die Länge ziehen. Für den Golem war es, als würde sie durch Klebstoff waten. Kleine Widrigkeiten nahmen ungewohnte Ausmaße an: das Klingeln der Glocke über der Tür, das Schlurfen und Husten der Kunden. In der Stille klangen ihre Gedanken laut, hoffnungslos eintönig und selbstsüchtig.
    Nach solchen Tagen waren die langen Nächte sowohl eine Erholung als auch eine Tortur. Sie freute sich darauf, allein zu sein, doch ihre Anspannung fand kein Ventil. Sie hätte gern lautlos Leibesübungen gemacht – als sie einmal vor Langeweile nicht mehr wusste, was

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