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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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einmal etwas gestohlen, an dem Tag, an dem ich in New York angekommen bin.« Und sie erzählte ihm von dem hungernden Jungen, dem Mann mit dem Knisch, den aufgebrachten Menschen. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass sie wütend waren, sie wollten, dass ich zahlte. Ich habe mir das alles angesehen, und dann … war ich nicht mehr da.« Sie runzelte die Stirn, als sie sich daran erinnerte. »Ich stand neben mir und habe mich beobachtet. Ich war ruhig. Ich habe nichts gefühlt. Aber ich wusste, dass etwas Schreckliches passieren würde, und dass ich es wäre, die es tun würde. Ich war erst ein paar Tage alt. Ich wusste nicht, wie ich mich unter Kontrolle halten sollte.«
    »Und was ist dann passiert?«
    »Letztlich nichts. Der Rabbi hat mich gerettet, und dem Mann seinen Knisch bezahlt. Ich war wieder bei mir selbst. Aber wenn er sich nicht eingemischt hätte – ich will gar nicht darüber nachdenken.«
    »Aber es ist nichts passiert«, sagte der Dschinn. »Und jetzt hast du dich besser unter Kontrolle, das hast du selbst gesagt.«
    »Ja, aber reicht das? Ich weiß nur, dass ich nie jemandem wehtun darf. Niemals. Zuvor würde ich mich, wenn nötig, selbst zerstören.«
    Sie hatte es nicht sagen wollen. Aber jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, war sie froh darüber. Sollte er begreifen, wie ernst sie es meinte, wie wichtig es ihr war.
    »Das ist nicht dein Ernst.« Er schien entsetzt. »Chava, das kannst du nicht tun.«
    »Ich meine es vollkommen ernst.«
    »Was, beim ersten Anzeichen von Zorn? Ein Mann rempelt dich auf der Straße an, und du zerstörst dich?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will deine Spitzfindigkeiten nicht hören. Ich werde mich nicht davon abbringen lassen.«
    Sie standen in angespanntem Schweigen da, der Wind pfiff ihnen um die Ohren.
    »Ich dachte, du wärst unzerstörbar«, sagte er.
    »Ich glaube, dass ich das auch bin, fast.«
    Sein Blick schweifte zu ihrem Hals – und sie merkte, dass sie gedankenlos nach dem Medaillon gegriffen hatte. Sofort ließ sie die Hand sinken. Beide blickten verlegen weg. Es wurde kälter; der Wind hatte aufgefrischt.
    »Manchmal vergesse ich«, sagte er, »wie unterschiedlich wir sind. Ich würde nie in Erwägung ziehen, mich selbst zu zerstören. Das käme mir vor, als würde ich aufgeben.«
    Sie wollte fragen:
Und es gibt nichts, wofür du dich aufgeben würdest?
Aber vielleicht ging das zu weit, war zu indiskret. Er drehte mit der freien Hand an der Schelle um sein Handgelenk. Sie sah ihre Konturen unter dem Hemdsärmel. »Tut es weh?«, fragte sie.
    Er blickte überrascht hinunter. »Nein«, sagte er. »Nicht körperlich.«
    »Kann ich sie sehen?«
    Er zögerte einen Moment – schämte er sich etwa? Dann zuckte er die Achseln und schob den Ärmel zurück. Sie blickte in dem dämmrigen Licht auf die Schelle. Das breite Eisenband schloss sich um sein Handgelenk, als wäre es nach Maß gefertigt. Es bestand aus zwei Halbkreisen, die von zwei Scharnieren zusammengehalten wurden. Das eine Scharnier war dick und solide; das andere war wesentlich dünner und mit einem schmalen, nahezu dekorativen Nagel verschlossen. Der Nagelkopf war dünn und rund wie eine Münze. Sie versuchte ihn herauszuziehen, aber er saß fest.
    »Er rührt sich nicht«, sagte der Dschinn. »Glaub mir, ich habe es versucht.«
    »Der Nagel sollte die schwächste Stelle sein.« Sie blickte zu ihm auf. »Wenn du möchtest, kann ich versuchen, es zu zerbrechen.«
    Er riss die Augen auf. »Unbedingt.«
    Vorsichtig nahm sie die Kanten des Bandes in die Finger. Seine Haut war erschreckend warm. Er zuckte bei ihrer Berührung zusammen und sagte: »Sind deine Hände immer so kalt?«
    »Verglichen mit deinen, ja.« Sie packte das Eisen mit den Fingerspitzen. »Sag mir, wenn ich dir wehtue.«
    »Das wirst du nicht«, erwiderte er, doch sie spürte, wie er sich verkrampfte.
    Sie begann zu ziehen, beständig und mit zunehmender Kraft, gewöhnliches Eisen wäre längst gebrochen. Aber sowohl Nagel als auch Schelle gaben nicht nach, nicht einen Millimeter. Der Dschinn leistete ihrer Kraft Widerstand, mit der freien Hand hielt er sich am Geländer fest; allmählich wurde ihr klar, dass entweder das Geländer oder aber der Dschinn brechen würde, bevor es das Band täte.
    Sie gab nach und hörte auf zu ziehen, blickte in sein Gesicht und sah, wie die Hoffnung darin erlosch. »Tut mir leid«, sagte sie.
    Seine dunklen Augen starrten blind ins Leere – doch dann entzog er

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