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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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sie tun sollte, hatte sie wie ein Kraftmeier im Zirkus eine Stunde lang ihren Tisch über den Kopf gehoben –, doch sie brauchte jede Minute zum Nähen. Anna hatte den Kundinnen erzählt, dass Chava eine hervorragende Schneiderin sei, und jetzt wurde sie mit Flickarbeiten überhäuft. Sie lagerte die auszubessernde Kleidung als schwankenden Haufen in einer Ecke ihres Zimmers, bis sich ihre Vermieterin beschwerte, dass sie nicht mehr richtig putzen könne – »und außerdem, Chava, sind wir eine ehrbare Pension und kein Ausbeuterbetrieb«. Sie hatte sich entschuldigt und die Kleider in ihren Schrank gestopft. Sie nähte so schnell wie möglich, verärgert über die Monotonie. Warum um alles in der Welt machten Männer immer ihre Hosen kaputt? Warum verloren sie ständig Knöpfe?
    Eines Nachts, in den langen Stunden vor Tagesanbruch, schlich sich ein Gedanke bei ihr ein: Der Dschinn hatte recht. Ihre Beschäftigungen waren nicht interessant genug für die vielen Lebensjahre, die ihr Lehmkörper noch vor sich hatte. »Verschwinde«, murmelte sie und zwang sich, an anderes zu denken. Natürlich war es seine Schuld. Früher war sie durchaus zufrieden gewesen; jetzt wurde sie so launisch wie er.
    Als sie sich in der Bäckerei wieder einmal diesen Gedanken hingab und versuchte, Mrs. Radzins Unterhaltung mit einer Kundin zu ignorieren, verdrängte plötzlich ein Gefühl reiner Panik alles andere in ihrer Wahrnehmung. Anna stand reglos an ihrem Tisch, ihr Gesicht wachsweiß. Sie legte das Nudelholz aus der Hand und ging so unauffällig wie möglich ins Hinterzimmer; doch das leise Geplauder in der Bäckerei konnte nicht übertönen, dass sie sich auf der Toilette übergab. Ein paar Minuten später kehrte sie zurück und nahm ihre Arbeit wieder auf, als wäre nichts geschehen. Aber der Golem kannte die Wahrheit, denn die Gedanken des Mädchens waren die reinste Qual:
Oh, Gott, es gibt keinen Zweifel mehr. Was, wenn die Radzins mich gehört haben? Was wird Irving sagen? Was soll ich bloß tun?
Und den restlichen Tag über bewies Anna, dass sie eine wahrhaft erfolgreiche Schauspielerin hätte werden können, denn sie plauderte und lächelte, als wäre alles in Ordnung. Es war ihr nicht anzusehen, in welchem Aufruhr sich ihre Gedanken befanden.

    Während der Dschinn mit Maloofs Blechdecke beschäftigt war, hatte der Frühling in Manhattan Fuß gefasst. In der Wüste hatte er den Wechsel der Jahreszeiten zahllose Male miterlebt, doch hier wirkte es wie ein Zaubertrick. Heftiger Regen wusch den Abfall aus den halb zugefrorenen Rinnsteinen, und dann kam unwahrscheinlicherweise die Sonne heraus. Die schmutzigen Schneehaufen, die sich seit November an den Straßenecken auftürmten, begannen zu schmelzen und lösten sich auf. Fenster, die monatelang geschlossen gewesen waren, wurden aufgerissen, Wäscheleinen neu gespannt, Teppiche und Bettdecken auf Feuerleitern geschleppt und freudig ausgeklopft. Die Luft roch nach Staub und sonnenwarmen Pflastersteinen.
    Als der Dschinn in dieser Woche zu Chavas Pension ging, überlegte er, ob er ihr von der Blechdecke erzählen sollte. Normalerweise sprach er wenig von seiner Arbeit, doch von der Decke würde sie bestimmt gern erfahren. Sie würde ihn loben, sich über seinen Erfolg freuen; und genau dagegen wehrte sich etwas in ihm. Er wollte von ihr kein Lob, nicht für so etwas. Denn sie wusste, dass er früher zu viel mehr in der Lage gewesen war. Die Decke ihr gegenüber auch nur zu erwähnen, schien ihm, als wäre er gefährlich nahe daran, sich zu fügen, klein beizugeben, dieses Leben für gut genug zu erklären. Mit Arbeely war es ihm nicht so ergangen.
    Er kam vor ihrer Pension an und sah, dass sie wie gewöhnlich nach ihm Ausschau gehalten hatte. Doch statt wie üblich vorsichtig zu sein, riss sie die Tür auf und rannte die Treppe herunter, als würde sie vor einem schrecklichen Streit weglaufen. Ebenso wenig blickte sie besorgt zu den Fenstern ihrer Zimmernachbarn hinauf; nicht einmal ihre Kapuze setzte sie auf. »Wohin gehen wir?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung.
    »Central Park«, sagte er erschrocken.
    »Ist es weit?«
    »Ja, aber –«
    »Gut«, sagte sie und setzte sich in Bewegung, ohne zu warten. Er beeilte sich, um sie einzuholen. Sie marschierte mit gesenktem Kopf, sprang über Pfützen und hatte offenbar vergessen, dass sie ihn genau dafür einst getadelt hatte. Sie ballte die Hände immer wieder zu Fäusten und streckte sie. Nie zuvor hatte er sie so

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