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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wirst du dir weitere Verrücktheiten einfallen lassen.«
    Er lachte. »Komm trotzdem. Der Ausblick wird dir gefallen.«
    Sie sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, dann sprang sie hoch und griff nach der Leiter. Sie kam sich lächerlich vor, als sich ihr Rock bauschte, aber der Aufstieg war einfach, und bald stand sie neben dem Dschinn auf dem Sims. Er hatte recht, der Blick war wunderschön. Die Dächer erstreckten sich eins nach dem anderen in die Ferne wie eine Reihe beleuchteter Spielkarten. Dahinter war gerade noch das schwarze Band des Hudson zu erkennen, das die Lichter des Hafens von den Lichtern am anderen Ufer trennte.
    Sie deutete auf den Fluss. »Ich glaube, dort bin ich an Land gegangen. Oder weiter im Süden. Ich weiß es nicht genau.«
    Er schüttelte den Kopf. »Am Grund eines Flusses zu gehen. Daran will ich gar nicht denken. So etwas würde ich niemals tun.«
    »Du wärst zweifellos auf eine andere Weise entkommen.«
    Er grinste. »Zweifellos.«
    Ein kalter beständiger Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, trug den Geruch von Kohlenstaub und Schlick, den Rauch von tausend Schornsteinen heran. Sie sah zu, wie sich der Dschinn eine Zigarette rollte, die Spitze mit den Fingern berührte und inhalierte. »Dieser Polizist«, sagte sie. »Kennst du ihn?«
    »Nur dem Namen nach. Die Polizei lässt mich in Ruhe, und ich lasse sie in Ruhe.«
    »Er hat dich Sultan genannt.«
    »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn darum gebeten hätte. Aber es ist genauso wenig mein richtiger Name wie Ahmad.« Eine bittere Note hatte sich in seinen Tonfall geschlichen; das Thema schien aus irgendeinem Grund schmerzhaft zu sein. »Und du hast jetzt auch einen zweiten Namen. Obwohl ich glaube, dass der Mann es im Scherz gemeint hat, aber ich verstehe nicht ganz warum.«
    »Eine Sultanine ist eine Art Rosine«, sagte sie.
    Der Dschinn schnaubte. »Eine
Rosine?
«
    »Wir verwenden sie in der Bäckerei.«
    Er lachte auf, lehnte sich zurück und betrachtete sie. »Darf ich dir eine Frage stellen?«
    Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Natürlich.«
    »Du hast so erstaunliche Fähigkeiten. Ärgert es dich nicht maßlos, dass du deine Tage damit verbringst, Brot zu backen?«
    »Sollte es das? Ist das Backen von Brot weniger wert als andere Arbeit?«
    »Nein, aber ich würde behaupten, dass es nicht unbedingt deinen Talenten entspricht.«
    »Ich bin sehr gut darin«, sagte sie.
    »Chava, ich zweifle nicht daran, dass du die beste Bäckerin in der ganzen Stadt bist. Aber du könntest so viel mehr tun! Warum den ganzen Tag Brot backen, wenn du mehr als das Gewicht eines Mannes heben und auf dem Grund eines Flusses gehen kannst?«
    »Und wie sollte ich diese Fähigkeiten einsetzen, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen? Soll ich auf einer Baustelle arbeiten und Steine schleppen? Oder mich als Schleppkahn anstellen lassen?«
    »Na gut, da gebe ich dir recht. Aber was ist mit deiner Fähigkeit, die Ängste und Wünsche anderer Menschen zu sehen? Das ist ein unauffälligeres Talent und könnte eine Menge Geld einbringen.«
    »Nie und nimmer«, sagte sie entschieden. »Daraus würde ich nie einen Vorteil ziehen.«
    »Warum nicht? Du wärst eine ausgezeichnete Wahrsagerin oder sogar Hochstaplerin. Ich kenne ein Dutzend Läden in der Bowery, die –«
    »Kommt nicht infrage!« Erst da bemerkte sie das kleine Lächeln, das sich in seinen Mundwinkeln versteckte. »Du nimmst mich auf den Arm«, sagte sie.
    »Natürlich nehme ich dich auf den Arm. Du wärst eine elende Hochstaplerin. Du würdest deine Opfer vorher warnen.«
    »Das nehme ich als Kompliment. Außerdem gefällt mir meine Arbeit. Sie passt zu mir.«
    Er lehnte sich ans Geländer und stützte das Kinn auf die Hand; sie fragte sich, ob er wusste, wie sehr er wie ein Mensch aussah. »Und wenn du machen könntest, was du wolltest, ohne dich verstecken zu müssen? Würdest du dann trotzdem in der Bäckerei arbeiten?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vielleicht. Aber ich kann nicht tun, was auch immer ich will, warum also darüber reden? Es macht mich nur zornig.«
    »Und du legst dir lieber Scheuklappen an, als zornig zu werden?«
    »Wie üblich drückst du es auf die schlimmste aller möglichen Arten aus, aber ja, es stimmt.«
    »Warum nicht zornig werden? Es ist eine unverfälschte, ehrliche Reaktion.«
    Sie schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie es ihm am besten erklären könnte. »Ich erzähle dir eine Geschichte«, sagte sie. »Ich habe

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