Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
der Flasche hatte offenbar seine Kräfte zerstört – dennoch glühte das Eisen innerhalb von ein paar Augenblicken dunkelrot. Er packte es noch fester, dann ließ er los. Seine Finger hatten einen Abdruck auf dem Metall hinterlassen. Nein, er war nicht hilflos. Er war trotz allem ein Dschinn, einer der Mächtigsten seiner Art. Und Mittel und Wege gab es immer.
Er begann zu zittern, achtete jedoch nicht darauf. Er wandte sich um und schaute auf die Stadt, die sich am Ufer erhob, riesige eckige Gebäude, die bis zum Himmel reichten, in den Fenstern perfekte Scheiben aus Glas. So phantastisch Städte wie al-Scham und al-Quds in den Erzählungen der Männer aus den Karawanen auch geklungen hatten, der Dschinn bezweifelte, dass sie auch nur halb so wundersam und furchterregend wie dieses New York gewesen waren. Wenn er schon in einem unbekannten Land gestrandet war, umgeben von einem tödlichen Ozean und in einer schwachen und unvollkommenen Gestalt gefangen, so lohnte es sich zumindest, diesen Ort zu erforschen.
Arbeely stand ein bisschen entfernt von ihm und sah zu, wie das Glühen des eisernen Geländers allmählich unter den Händen des Dschinns verblasste. Es erschien ihm immer noch unmöglich, dass so etwas passieren konnte, während der Rest der Stadt seinen Geschäften nachging, unverändert und ahnungslos. Am liebsten hätte er den nächstbesten Passanten gepackt und geschrien:
Schauen Sie sich diesen Mann an! Er ist überhaupt kein Mensch! Schauen Sie, was er mit dem Geländer gemacht hat!
Er vermutete, dass es schwierigere Wege gab, in die Irrenanstalt verfrachtet zu werden.
Er blickte über die Bucht, versuchte, sie mit den Augen des Dschinns zu sehen. Er fragte sich, wie er selbst sich fühlen würde, wenn er erwachte und feststellen musste, dass über tausend Jahre vergangen waren. Das würde jeden in den Wahnsinn treiben. Aber der Dschinn stand nur da, mit geradem Rücken und grimmiger Miene, und starrte auf das Wasser. Er sah nicht aus wie ein Mann, der gleich Amok laufen würde. Die schmutzigen, zu kleinen Kleider bildeten einen lächerlichen Kontrast zu seiner Figur und seinem Gesicht, sie hingen an ihm herunter, als wollten sie sich entschuldigen. Jetzt drehte er sich um und betrachtete die Gebäude, die am Rand des Parks dicht an dicht aufragten. Erst da fiel Arbeely auf, dass er von Kopf bis Fuß zitterte.
Der Dschinn machte einen Schritt von dem Geländer weg. Seine Knie gaben nach, und er fiel.
Arbeely stürzte zu ihm und fing ihn auf, bevor er auf dem Boden landete, und richtete ihn wieder auf. »Sind Sie krank?«
»Nein«, murmelte der Dschinn. »Mir ist kalt.«
Auf dem Rückweg zur Werkstatt musste Arbeely seinen neuen Bekannten halb stützen und halb tragen. Kaum angekommen, schwankte der Dschinn zu der erhöhten Esse, brach zusammen und lehnte sich an ihre glühend heiße Seite. Das geliehene Arbeitshemd rauchte, wo es gegen das Eisen stieß, aber er schien es nicht zu bemerken. Er schloss die Augen und regte sich nicht mehr. Nach einer Weile hörte er auf zu zittern, und Arbeely entschied, dass er eingeschlafen war.
Der Mann seufzte und sah sich um. Die Kupferflasche lag noch auf dem Boden. Er hob sie auf und stellte sie in ein Regal. Im Augenblick wollte er nicht darüber nachdenken. Er brauchte eine einfache Aufgabe, etwas Unkompliziertes und Beruhigendes. Er schaute sich um und sah einen Wasserkessel mit einem Loch im Boden, den ihm ein Restaurantbesitzer aus dem Viertel gebracht hatte. Das war perfekt, einen Wasserkessel konnte er im Schlaf flicken. Er schnitt ein Stück Zinnblech zurecht, erhitzte es wie auch den Kessel und machte sich an die Arbeit.
Hin und wieder blickte er zu seinem Gast und fragte sich, was passieren würde, wenn er erwachte. Auch stumm und reglos hatte der Dschinn etwas Seltsames – als wäre er nicht ganz wirklich oder aber das einzig Wirkliche im Raum. Arbeely vermutete, dass auch andere es spüren würden, aber er bezweifelte, dass sie den Grund dafür hätten benennen können. Die jungen Mütter von Little Syria banden ihren Babys noch immer Eisenperlen ums Handgelenk und versuchten mit Gesten den bösen Blick abzuwehren, aber mehr aufgrund von liebgewonnenem Aberglauben als echter Angst: Diese neue Welt war weit entfernt von den Geschichten ihrer Großmütter. Das glaubten sie zumindest.
Nicht zum ersten Mal wünschte er, er hätte einen Vertrauten, jemanden, dem er auch die aberwitzigsten Geheimnisse erzählen könnte. Doch in der eng
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