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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wachsende Obsession mit der Welt der Menschen vielleicht gelegt und er wäre wie geplant zur Dschinnsiedlung seiner Jugend aufgebrochen. Doch als es aufhörte zu regnen und der Dschinn endlich hinaustrat in eine frisch gewaschene Landschaft, hatten sich nicht nur die Wolken aufgelöst, sondern auch sein Plan.

Kapitel  3
    N ach nur wenigen Stunden in New York begann der Golem, sich nach der relativen Ruhe des Schiffs zu sehnen. Der Lärm auf den Straßen war unglaublich; der Krach in ihrem Kopf war noch schlimmer. Wie gelähmt stellte sie sich unter eine Markise, während die verzweifelten Gedanken der Straßenhändler und Zeitungsjungen sie noch vor ihren Schreien erreichten:
Die Miete ist fällig, mein Vater wird mich schlagen, bitte, jemand soll die Kohlköpfe kaufen, bevor sie schlecht werden.
Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie alles weggegeben, nur um den Krach zu beruhigen.
    Passanten musterten sie von Kopf bis Fuß, bemerkten ihren starren Blick, das schmutzige zerknitterte Kleid, die lächerliche Männerjacke. Die Frauen runzelten die Stirn; manche Männer grinsten anzüglich. Ein Mann, der um zehn Uhr morgens schon sturzbetrunken war, feixte und näherte sich ihr mit wollüstigen Gedanken. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass das ein Wunsch war, den sie nicht erfüllen wollte. Angewidert ging sie auf die andere Straßenseite. Eine Straßenbahn bog ratternd um die Kurve und hätte sie um ein Haar überfahren. Die Flüche des Schaffners folgten ihr, als sie davoneilte.
    Sie wanderte stundenlang vom Zufall geleitet durch Straßen und Gassen. Es war ein feuchter Julitag, und die Stadt begann, beißend nach verrottendem Abfall und Mist zu stinken. Ihr Kleid war getrocknet, doch der Schlick aus dem Fluss klebte in abblätternden Schichten daran. In der Wolljacke fiel sie noch mehr auf, da der Rest der Stadt vor Hitze fast umkam. Auch ihr war heiß, aber nicht auf unangenehme Weise – sie fühlte sich vielmehr locker und beweglich, als würde sie wieder durch den Fluss waten.
    Alles, was sie sah, war neu und unbekannt, und es schien kein Ende zu nehmen. Sie hatte Angst und war überwältigt; doch hinter der Angst verbarg sich eine drängende Neugier, die sie immer weiterführte. Sie schaute in eine Metzgerei und versuchte herauszufinden, was es mit den gerupften Vögeln, den Wurststrängen und den roten länglichen Gerippen, die an Haken hingen, auf sich hatte. Der Metzger sah sie und kam hinter dem Verkaufstisch hervor; sie lächelte ihn kurz freundlich an und ging weiter. Die Gedanken der Passanten trieben durch ihren Kopf, doch sie lieferten keine Antworten, nur weitere Fragen. Zum einen, warum brauchte jeder Geld? Und was genau war Geld? Sie sah die Münzen, die von Hand zu Hand gingen; aber es war so allgegenwärtig in den Ängsten und Wünschen, dass ein größeres Geheimnis dahinterzustecken schien, das sie erst noch aufdecken musste.
    Sie gelangte in ein modischeres Viertel, und die Schaufenster waren jetzt voller Kleider und Schuhe, Hüte und Schmuck. Vor einem Putzmachergeschäft blieb sie stehen und betrachtete einen riesigen phantastischen Hut auf einem Ständer, das breite Band war mit Netzgewebe, Stoffrosen und einer langen wackelnden Straußenfeder verziert. Fasziniert neigte sich der Golem vor und legte eine Hand auf das Glas – und die Scheibe zerbarst unter der Berührung.
    Sie sprang zurück, als ein Scherbenregen aus dem Fenster auf den Boden fiel. Im Laden blickten zwei gut gekleidete Frauen zu ihr, die Hände vor den Mund geschlagen.
    »Tut mir leid«, flüsterte der Golem und lief davon.
    Voller Angst eilte sie jetzt durch Gassen und geschäftige Straßen und versuchte, mit niemandem zusammenzustoßen. Die Stadt veränderte sich von Block zu Block. Schmuddlige Männer und empörte Ladenbesitzer schrien sich an, machten ihrem Unmut in einem Dutzend Sprachen Luft. Kinder liefen von ihren Schuhputzständen und vom Baseballspielen nach Hause und dachten nur ans Abendessen.
    Eine Art geistige Ermattung überkam sie und vernebelte ihre Gedanken. Sie wandte sich nach Osten, folgte den Spitzen der Schatten und gelangte in ein Viertel, in dem es weniger chaotisch zuging und die Menschen einen zielstrebigen Eindruck machten. Ladenbesitzer rollten ihre Markisen ein und schlossen ihre Geschäfte. Bärtige Männer gingen nebeneinander und unterhielten sich konzentriert. Frauen standen plaudernd an den Straßenecken, mit Schnur umwickelte

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