Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
und die tragische Märtyrerin werden, die sie unbedingt sein wollte. Oder in ihre Pension zurückkehren und bis in alle Ewigkeit backen und nähen. Ihm war es gleichgültig. Er war fertig mit ihr.
Je weiter er nach Süden kam, umso weniger Menschen waren auf der Straße, bis sie ganz verschwunden und nur noch die Elendsquartiere übrig waren. Er wandte sich nicht nach Westen Richtung Little Syria. Dort wartete nur die Werkstatt oder seine Wohnung auf ihn, und der Gedanke, eingesperrt zu sein, war ihm unerträglich.
Schließlich näherte er sich den Schatten der Brooklyn Bridge. Er hatte die Brücke immer bewundert, ihren eleganten Schwung, die unglaubliche Anstrengung und Kunstfertigkeit, die für ihren Bau aufgewandt worden waren. Er fand den Zugang zum Fußgängerweg und ging ihn entlang, bis er über dem Fluss stand. Boote schaukelten im Hafen unter ihm, ihre Rümpfe schabten an den Pfählen. Wenn er wollte, konnte er einfach nach Brooklyn und noch weiter gehen. Je länger er darüber nachdachte, umso attraktiver fand er die Vorstellung. Nichts hielt ihn in Manhattan. Er könnte sein Streben nach einer menschlichen Existenz über Bord werfen und immer weitergehen, er würde nie müde werden, nie anhalten! Die Erde würde unter ihm weggleiten, wie sie es auch früher getan hatte.
Er stand über dem Wasser, sein Körper angespannt, und wartete darauf, dass er den ersten Schritt machte. Die Brücke erstreckte sich vor ihm, ein hängendes Netzwerk aus kaltem Stahl und warmen glühenden Gaslichtern, die sich in die Ferne zogen.
Plötzlich ließ die Spannung in seinem Körper nach, und er war nur noch unendlich erschöpft. Es hatte keinen Sinn. Was erwartete ihn auf der anderen Seite der Brücke? Zahllose Menschen und Gebäude auf einer weiteren Insel. Er würde bis an ihr Ende gehen und dann? Sich in den Ozean stürzen? Warum sprang er dann nicht gleich hier von der Brücke?
Er spürte, wie die Washington Street an ihm zerrte, als wäre er ein Vogel in einer Falle. Zentimeter um Zentimeter zog sie ihn zu sich zurück. Sie hatte nichts zu bieten, was er sich wünschte; aber wohin sonst sollte er gehen?
Arbeely schürte gerade das Feuer, als Ahmad hereinkam. »Guten Morgen«, sagte er. »Kannst du auf die Werkstatt aufpassen? Ich muss ein paar Dinge erledigen, und dann gehe ich zu Matthews Mutter. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, wie viel Zeit er bei uns verbringt.« Als der Dschinn nicht antwortete, blickte Arbeely zu ihm und wurde blass. »Geht es dir nicht gut?«
Eine Pause. »Warum fragst du?«
Arbeely wollte sagen, dass er aussah, als wäre sein Herz gebrochen, als hätte er etwas von unermesslichem Wert verloren und die ganze Nacht danach gesucht. Doch er sagte nur: »Du siehst krank aus.«
»Ich kann nicht krank werden.«
»Ich weiß.«
Ahmad setzte sich an seine Werkbank. »Arbeely, würdest du sagen, dass du mit deinem Leben zufrieden bist?«
O Gott
, dachte Arbeely,
irgendetwas ist passiert.
Nervös dachte er über eine Antwort nach. »Schwer zu sagen. Aber alles in allem denke ich, dass ich zufrieden bin. Das Geschäft geht gut. Ich esse gut und kann meiner Mutter Geld schicken. Ich arbeite hart, aber ich mag meine Arbeit. Das können nicht viele von sich behaupten.«
»Aber du lebst weit weg von zu Hause. Du hast keine Freundin, von der ich wüsste. Du machst Tag für Tag das Gleiche und hast nur mich zur Gesellschaft. Wie kannst du da bloß zufrieden sein?«
Arbeely zuckte zusammen. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Natürlich vermisse ich meine Familie. Aber hier habe ich mehr Erfolg, als ich in Zahleh je haben könnte. Eines Tages werde ich nach Syrien zurückkehren und mir eine Frau suchen und eine Familie gründen. Aber jetzt brauche ich nicht mehr, als ich habe. Ich wollte nie reich werden oder Abenteuer erleben. Ich will gut verdienen und ein angenehmes Leben haben. Aber ich bin wohl auch kein komplizierter Mensch.«
Ahmad lachte sarkastisch auf. Dann neigte er sich vor und schlug die Hände vors Gesicht. Es war eine erschreckend menschliche Geste voller Schwäche. Bekümmert machte sich Arbeely an der Esse zu schaffen. Jedem anderen hätte er ein tröstliches Gespräch mit Maryam empfohlen. Aber Ahmad konnte nicht mit Maryam reden, weil er alles hätte verschweigen müssen, was wirklich wichtig war. War er selbst der einzige Vertraute des Dschinns? Bei diesem Gedanken hätte er am liebsten für sie beide gebetet.
Vielleicht könnte er ihn zumindest ablenken. »Ich habe
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