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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Ein geringerer Dschinn wäre vernichtet worden.
    Er hing eine Weile im Wind, erholte sich so gut wie möglich, bevor er die Heimreise antrat – so schwach, wie er war, wäre er eine leichte Beute und verwundbar, bis er seinen Palast erreichte. Die aufgeregten Rufe menschlicher Stimmen, das Wehklagen der Frauen und die Schreie eines Vaters, die der Wind zu ihm trug, versuchte der Dschinn zu überhören.

Kapitel  19
    D er Dschinn rannte mit dem Golem auf den Armen.
    Er wollte in die Bowery, sich mit ihr unter den vielen Menschen verstecken oder in dem Gewirr aus Straßen, in das sich die Polizei nicht traute. Er fand eine Feuerleiter, stieg hinauf und lief von Dach zu Dach, aus den Schatten folgten ihnen Blicke. Chavas Gewicht machte ihn schwerfällig, und sie war noch immer ohnmächtig. Hatte er sie zu schwer verletzt? Wenn sie Hilfe brauchte, wo würde er sie finden? Vielleicht konnte er sie zu Conroy bringen …
    Sie wand sich in seinen Armen, und er geriet ins Straucheln. Hinter einem Schornstein fand er eine dunkle, verlassene Ecke und setzte sich auf die Teerpappe, hielt sie in den Armen und zuckte zusammen beim Anblick ihrer zerrissenen Bluse und Unterwäsche. Das Haar hing ihr wirr übers Gesicht, die Kämme mit den Griffen in Rosenform waren unterwegs herausgefallen. Aufgrund ihrer kalten Haut und dem Fehlen von Puls und Atmung hätte man denken können, dass er eine Leiche in den Armen hielt. Die Verbrennungen oberhalb ihrer Brust waren bereits verblasst, die Umrisse seiner Finger verschwanden, während er noch hinschaute. War sie in Ohnmacht gesunken, damit ihr Körper heilen konnte?
    Er bewegte sich, um wieder aufzustehen, als er unter den Baumwollfetzen etwas aufblitzen sah: eine goldene Halskette. Daran hing ein großes längliches Medaillon mit einem einfachen Schloss. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Sims des Wasserturms gestanden hatten und sie etwas sagte, das ihn so beunruhigt hatte:
Ich darf nie jemandem wehtun. Nie. Zuvor würde ich mich, wenn nötig, selbst zerstören.
Sie hatte eine Hand an den Hals gehoben und sie verlegen wieder gesenkt. Als hätte er zu viel gesehen.
    Er berührte den Verschluss, und das Medaillon sprang auf. Ein zusammengefaltetes Stück Papier fiel ihm in die Hand. Als wäre das der Schlüssel, um sie zu wecken, begann der Golem sich zu regen. Rasch schloss er das Medaillon und steckte das Papier in die Tasche.
    Sie schlug die Augen auf und versuchte, sich umzusehen, ihre Bewegungen waren fahrig und erinnerten ihn an einen Vogel. »Ahmad«, sagte sie. »Wo sind wir?« Ihre Worte klangen merkwürdig undeutlich. »Was ist passiert? Warum kann ich mich an nichts erinnern?«
    Hatte sie wirklich jegliche Erinnerung an die Geschehnisse verloren? Wenn Anna bewusstlos und andere Zeugen zu weit entfernt gewesen waren, um deutlich zu sehen … »Ein Unfall«, sagte er und suchte verzweifelt nach einer glaubwürdigen Erklärung. »Ein Feuer. Du hast dich verbrannt und bist ohnmächtig geworden. Ich habe dich weggebracht, und deine Wunden sind geheilt.«
    »Oh, Gott! Ist jemand verletzt?« Sie stand schwankend auf. »Wir müssen zurück!«
    »Es ist noch zu gefährlich dort.« Seine Gedanken rasten und versuchten, jeden Einwand vorwegzunehmen. »Aber niemandem ist etwas passiert. Niemand wurde verletzt.«
    »Ist Anna –«
    Und dann hielt sie inne. Und er sah in ihren Augen, wie ihre Erinnerung zurückkehrte, die Bilder von Irving, den sie mit ihren Fäusten bearbeitete.
    Sie stieß einen wortlosen Klagelaut aus und sank auf die Knie, hob die Hände und raufte sich das Haar. Sofort bereute er die Geschichte, die er erzählt hatte. Er zog eine Grimasse und legte die Arme um sie, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
    »Lass mich los!« Sie entwand sich seinem Griff, rappelte sich auf und wich zurück. Mit dem zerzausten Haar und den zerrissenen Kleidern sah sie aus wie ein Geist, dem er einst vielleicht begegnet war und den er unbedingt hatte meiden wollen. »Verstehst du jetzt?«, rief sie. »
Verstehst
du? Ich habe einen Mann umgebracht!«
    »Er hat gelebt, als wir weg sind. Sie werden einen Arzt holen, er wird wieder gesund, davon bin ich überzeugt.« Er versuchte zuversichtlicher zu klingen, als er war.
    »Ich war nicht vorsichtig genug, ich habe zugelassen, dass ich vergesse … Oh, Gott, was habe ich getan? Und du – warum hast du mich weggebracht, warum hast du gelogen?«
    »Um dich zu beschützen! Sie haben nach der Polizei gerufen, sie hätten dich

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