Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
nur erschrocken.
»Wer mein Geheimnis kennt, muss einen Preis dafür zahlen«, sagte der Dschinn. »Du musst mir helfen, die Kette zu machen.« Der Junge, der zuerst furchtsam dreingeblickt hatte, strahlte jetzt übers ganze Gesicht. »Ich brauche viele kleine Stücke Silberdraht, ungefähr so lang wie dein Daumennagel.« Er schnitt ein Stück von der Rolle ab, um es ihm zu zeigen, dann reichte er dem Jungen die Drahtschere. »Kannst du das?«
Statt zu antworten, begann der Junge den Draht abzumessen und mit großer Umsicht abzuschneiden. »Gut«, sagte der Dschinn. »Pass auf, dass du die Stücke nicht verbiegst.« Er müsste Arbeely erzählen, dass der Junge Bescheid wusste; es konnte nicht lange ein Geheimnis bleiben. Arbeely würde außer sich sein. Erst Saleh, jetzt Matthew – Wer wäre der Nächste? Vielleicht würde er weiterhin das Glück haben, nur von halb verrückten alten Männern und schweigsamen Jungen demaskiert zu werden.
Er rieb gedankenverloren an der Schelle um sein Handgelenk und fragte sich, ob Chava schon bemerkt hatte, dass der Zettel verschwunden war. Dann zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Er musste arbeiten.
Ein paar Tage später strampelte ein Botenjunge auf einem Fahrrad in die Washington Street und hielt vor dem Schild, auf dem
Arbeely & Ahmad – Blech, Eisen, Silber, alle Metalle
stand. Arbeely öffnete auf das Klopfen an der Tür und sah den Jungen, der ein kleines Päckchen in der Hand hielt. »Tag«, grüßte der Junge und griff sich an die Mütze.
»Ah, hallo«, antwortete Arbeely in seinem unsicheren Englisch.
»Das hier soll ich einem Schmied namens Ahmad geben«, sagte der Junge. »Sind Sie das?«
»Ich bin Ahmad«, antwortete der Dschinn und stand von der Werkbank auf. »Er ist Arbeely.«
Der Junge zuckte die Achseln und reichte dem Dschinn das Päckchen. Der Dschinn gab dem Jungen eine Münze und schloss die Tür.
»Hast du etwas erwartet?«, fragte Arbeely.
»Nein.« Auf dem Päckchen war kein Absender oder sonst irgendetwas vermerkt. Er löste die Schnur und unter dem Papier tauchte ein hölzernes Schächtelchen mit einem Scharnier auf. Darin befand sich in einem Nest aus Holzwolle ein kleiner silberner Vogel. Sein runder Rumpf lief in kurzen Schwanzfedern aus, den Kopf hielt er zur Seite geneigt.
Der Dschinn ignorierte Arbeelys Protest, warf den Vogel ins Feuer und sah zu, wie er zur Seite kippte und zu einer gräulichen Lache schmolz, die zwischen den Kohlen verlief. Er war fertig mit ihr. Für alle Zeiten. Er rieb an der Eisenschelle, und der versteckte Zettel wiederholte flüsternd:
Für alle Zeiten.
Kapitel 20
Rätselhafter Überfall hinter Tanzlokal
Das Opfer eines unbekannten Angreifers ringt mit dem Tod, Polizei hat mit verwirrenden und widersprüchlichen Zeugenaussagen zu kämpfen.
Die Behörden stehen vor einem Rätsel im merkwürdigen Fall des Irving Wassermann, 21 , einem in der Allen Street wohnhaften Juden. Vor drei Tagen wurde Wassermann das Opfer von Schlägen einer oder mehrerer unbekannter Personen hinter dem Grand Casino in der Broome Street, einem Tanzlokal, das bei der hebräischen Jugend des Viertels sehr beliebt ist. Zeugen, die den verletzten Mann fanden, riefen um Hilfe, aber der oder die Angreifer flüchteten vom Tatort und sind bislang unauffindbar. Wassermann ringt im Beth Israel Hospital mit dem Tod.
Die Polizei gibt an, dass die Beschreibungen der Zeugen, überwiegend junger Personen, die sich vor der Lokalität aufhielten, bedauerlicherweise nicht sehr hilfreich waren. Der Angreifer wurde wahlweise beschrieben als Mann, als Frau oder, noch seltsamer, als Mann in Frauenkleidern. Wieder andere Zeugen wollen gesehen haben, wie nicht einer, sondern zwei Täter vom Tatort flüchteten. Nach der Untersuchung des Opfers im Beth Israel, erklärte der Arzt Philip White, die Schläge seien zu viele und zu schwer gewesen, als dass ein Mann allein sie ausgeteilt haben könnte, geschweige denn eine Frau. »Wenn ich die Umstände nicht kennen würde«, sagte der Doktor, »würde ich annehmen, dass ein Pferd auf ihm herumgetrampelt ist.«
Der Fall wurde Wachtmeister George Kilpatrick übergeben, der alsbald herausfand, dass Wassermann im Viertel für seine vielen Affären bekannt war und dass er an dem fraglichen Abend dabei beobachtet wurde, wie er mit einer seiner Freundinnen stritt. Wachtmeister Kilpatrick mutmaßt, dass sich Freunde oder Verwandte des Mädchens Wassermann vorgenommen haben könnten – was das Mädchen bei
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