Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
es mitbekommen oder einfach aufhören zu existieren? Sie war ruhig, und zugleich war ihr schwummrig, als wäre sie von einer großen Höhe gesprungen und sähe jetzt, wie die Erde auf sie zukam.
    Sie drückte mit dem Daumen auf den Verschluss des Medaillons. Es sprang auf und gab einen leeren goldfarbenen Hohlraum preis. Der Zettel war nicht mehr da. Er war einfach verschwunden. Hatte sie ihn vor langer Zeit verloren, ohne es zu merken? War er ihr gestohlen worden? Benommen wie sie an diesem so unwirklichen Abend war, schien es durchaus möglich, dass sie alles nur phantasiert hatte, den Rabbi, seinen Tod, den Umschlag, der neben seiner Hand lag.
    Sie zwang sich zum Nachdenken. Sie musste eine andere Lösung finden, aber welche? Allein war ihr nicht mehr über den Weg zu trauen. Sie hatte schreckliche Entscheidungen gefällt und zu vielen Versuchungen nachgegeben. Vielleicht könnte sie jemanden finden, der auf sie aufpasste, wie es der Rabbi einst getan hatte. Jemand, der anständig und verantwortungsvoll war. Die Person musste nicht einmal über ihr wahres Wesen Bescheid wissen – sie könnte sie durch beispielhaftes Verhalten anleiten, sie zu beschützen, ohne zu wissen, was für ein gutes Werk sie vollbrachte.
    Als ihr die Antwort einfiel, erschien sie ihr unausweichlich. Vielleicht, so dachte sie, war sie schon die ganze Zeit darauf zugesteuert.

    Michael Levy ging an diesem Morgen früher ins Wohnheim als gewöhnlich. Er hatte schlecht geschlafen, verfolgt von finsteren Träumen, an die er sich nur bruchstückhaft erinnerte. In einem Traum fasste ihn sein Onkel an den Schultern und sagte ihm etwas, was er
keinesfalls
vergessen durfte, aber Michael hörte nur ein Kauderwelsch. In einem anderen Traum ging er auf eine schmuddlige, baufällige Hütte zu, und aus einem Fenster starrten ihn die bösen Augen eines Mannes an. Danach konnte er nicht mehr schlafen, stand auf, zog sich an und ging zur Arbeit.
    Er war vollkommen erschöpft. Irgendwie schaffte er es, dass das Wohnheim nicht zusammenbrach, aber an Tagen wie diesem fragte er sich, ob er die Agonie nicht nur verlängerte. Seit einiger Zeit schickten ihm andere jüdische Organisationen Männer, die sie nicht unterbringen konnten, als wäre er ein Zauberer, der aus dem Nirgendwo Betten und Brot heraufbeschwören konnte. Er wies so viele ab, wie er ertrug, dennoch war die Lage zum Zerreißen angespannt. Die Moral des Personals litt; sogar der unermüdliche Joseph Schall wirkte griesgrämig und zerstreut. Und konnte man es ihm übel nehmen? Etwas musste sich ändern, und zwar bald. Sie brauchten alle einen Grund zur Hoffnung.
    Er bog um die Ecke und sah eine dunkle Gestalt auf der Treppe vor dem Wohnheim sitzen. Er stöhnte bei dem Gedanken an einen weiteren Bedürftigen, doch die Gestalt bemerkte ihn und stand auf: eine große Frau. Er erkannte, wer sie war, und sein Herz machte einen Satz.
    »Hallo, Chava«, sagte er. Er wollte nicht fragen, warum sie gekommen war. Zweifellos war es eine banale Sache, und sie würde nur allzu rasch wieder gehen.
    Sie sagte: »Michael, ich würde gern Ihre Frau werden. Wollen Sie mich heiraten?«
    Passierte das wirklich? Es musste so sein; so schöne Träume hatte er nie. Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange, wagte, es zu glauben. Sie rührte sich nicht. Sie ging nicht auf ihn zu, und sie wich nicht zurück. Sie schaute ihn nur an, und er sah sich selbst, seine ausgestreckte Hand in ihren dunklen ruhigen Augen.

    Es war fast drei Uhr morgens, und in der Bowery waren noch immer betrunkene, laut lachende Männer und Frauen unterwegs. Musik drang aus den Spielhöllen und Bordellen, doch die Ausschweifungen hatten etwas zunehmend Verzweifeltes. In den Seitenstraßen suchten Hochstapler die Menge nach ihren letzten Opfern für die Nacht ab; Prostituierte lehnten sich aus den Fenstern, posierten träge, ihre Blicke gierig und gerissen.
    Durch dieses ausufernde Bacchanal ging der Dschinn, nachdem Chava ihn auf dem Hausdach verlassen hatte. Er nahm nichts davon wahr, weder die vielen Menschen noch die Menschenjäger, die jedoch ihrerseits die Kränkung und den Zorn in seinem Blick erkannten und sich nach besseren Opfern umschauten. Der Dschinn sah noch immer Chava vor sich, die Kleider verbrannt, das Haar wild. In seinem Kopf hallten die Worte wider, die sie gesagt hatte, die Dinge, deren sie ihn beschuldigt hatte. Die Endgültigkeit ihres Abschieds.
    Na gut, dann sollte es eben so sein. Sollte sie sich der Polizei stellen

Weitere Kostenlose Bücher