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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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hielt, zögerte sie und suchte nach den richtigen Worten. »Haben diese Menschen wirklich gelebt?«
    Er zog eine Augenbraue hoch. »Würde meine Antwort Ihre Auffassung von ihnen ändern?«
    »Ich weiß nicht. Sie wirken einfach zu
simpel
, um wirklich gelebt zu haben. Sobald sie sich etwas wünschten, handelten sie danach. Und es waren keine Kleinigkeiten wie ›Ich brauche einen neuen Hut‹ oder ›Ich will einen Laib Brot kaufen‹. Es waren große Dinge wie Adam und Eva und der Apfel. Oder Kain, der Abel umgebracht hat.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, ich lebe noch nicht lang, aber es erscheint mir so ungewöhnlich.«
    »Sie haben doch Kinder auf der Straße spielen sehen, nicht wahr? Stellen die ihre Wünsche oft zurück?«
    »Ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete sie, »aber das sind keine Geschichten über Kinder.«
    »Ich glaube, auf gewisse Weise sind sie es schon«, sagte der Rabbi. »Es waren die ersten Menschen auf der Welt. Alles, was sie taten und entschieden, war neu, es gab keine Gesetze. Sie konnten niemanden um Rat fragen, sie hatten keine Vorbilder für ihr Handeln. Nur der Allmächtige konnte ihnen sagen, was richtig und was falsch war. Und wie alle Kinder hörten sie bisweilen nicht auf ihn, wenn Seine Gebote ihren Wünschen zuwiderliefen. Und dann mussten sie lernen, dass ihre Taten Konsequenzen hatten. Aber sagen Sie – ich habe nicht den Eindruck, dass Ihnen das Lesen als Zeitvertreib Spaß gemacht hat.«
    »Ich habe versucht, es zu mögen«, widersprach sie. »Aber es ist schwer, so lange still zu sitzen.«
    Der Rabbi seufzte innerlich. Er hatte gehofft, dass das Lesen eine gute Lösung wäre, sogar eine Lösung auf Dauer. Aber jetzt sah er ein, dass das zu viel von ihr verlangt war. Es entsprach nicht ihrem Wesen.
    »Wenn ich nachts nur draußen spazieren gehen könnte.« Ihre Stimme klang flehend.
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist leider nicht möglich. Frauen, die nachts allein draußen sind, gelten als unanständig. Sie wären Opfer unerwünschter Annäherungsversuche, sogar gewaltsamer Attacken. Ich wünschte, es wäre anders. Aber vielleicht ist es an der Zeit«, sagte er, »dass wir uns tagsüber hinauswagen. Wir könnten gemeinsam spazieren gehen, wenn ich mit dem Unterricht fertig bin. Würde das helfen?«
    Der Golem strahlte vor Vorfreude und verbrachte den Morgen damit, mit erneuertem Eifer die makellos saubere Küche zu putzen.
    Nachdem der letzte Schüler gekommen und wieder gegangen war, erklärte ihr der Rabbi seinen Plan für den Spaziergang. Er würde die Wohnung allein verlassen, und sie sollte ihm fünf Minuten später folgen. Sie würden sich an einer bestimmten Straßenecke ein paar Blocks entfernt treffen. Er gab ihr einen alten Schal seiner Frau und einen Strohhut sowie ein Paket, ein paar in Papier gewickelte Bücher. »Gehen Sie, als ob Sie etwas erledigen wollten und ein Ziel hätten«, sagte er. »Aber nicht zu schnell. Wenn nötig nehmen Sie sich die Frauen in Ihrer Nähe zum Vorbild. Ich werde auf Sie warten.« Er lächelte aufmunternd und ging.
    Der Golem wartete und schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. Drei Minuten vergingen. Vier. Fünf. Mit den Büchern in der Hand trat sie in den Hausflur, schloss die Tür und ging hinaus auf die mittägliche Straße. Zum ersten Mal, seit sie beim Rabbi lebte, verließ sie die Wohnung.
    Diesmal war sie besser vorbereitet auf den Ansturm von Wünschen und Bedürfnissen, doch sie waren so intensiv, dass sie ihr Angst einjagten. Einen verzweifelten Augenblick lang wollte sie zurück in die Wohnung flüchten. Aber nein – der Rabbi wartete auf sie. Sie schaute auf den dichten Verkehr, die Fußgängerströme und Händler und Pferde, die alle aneinander vorbeidrängten. Sie umklammerte das Paket, als wäre es ihr Talisman, blickte noch einmal rasch nach links und rechts und ging los.
    Unterdessen stand der Rabbi an der vereinbarten Ecke und wartete nervös. Auch er hatte Mühe, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Er hatte daran gedacht, den Golem zu verfolgen, um sicherzugehen, dass sie nicht in Schwierigkeiten geriet – aber es wäre ihr mühelos gelungen, seine Gedanken unter all den anderen herauszuhören, so wie er sich auf sie konzentrierte. Und er konnte es weder riskieren noch ertragen, ihr Vertrauen zu verlieren. Und so hatte er genau das getan, was er gesagt hatte, und war zu der Ecke gegangen, um auf sie zu warten. Es war auch für ihn eine Prüfung – ob er sie gehen lassen und mit dem

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