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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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hohläugigen Ehefrauen nicht nachweisbare Gifte verkaufte, widmete Schaalman jeden Gedanken diesem Dilemma: Wie konnte er die Ankunft des Engels auf unbestimmte Zeit hinausschieben? Er war also kein Mann, der sich müßigen Träumereien hingab. Er vergeudete seine Zeit grundsätzlich nicht mit Spekulationen über die Leute, die seine Dienste in Anspruch nahmen. Warum also, so fragte er sich, hatte dieser glücklose Möbelschreiner sich in seinem Kopf eingenistet?
     
    Yehudah Schaalmans Leben war nicht immer so gewesen.
    Als Junge war er der vielversprechendste Schüler, der den Rabbis je untergekommen war. Er lernte, als wäre er nur dafür geboren. Mit fünfzehn war es die Regel, dass er seine Lehrer mit Argumenten in die Enge trieb und ein so feines Netz talmudischer Spitzfindigkeiten spann, dass sie Positionen einnahmen, die ihren Glaubensgrundsätzen konträr zuwiderliefen. Seine geistige Wendigkeit ließ sich nur messen mit seiner Frömmigkeit und seiner Liebe zu Gott, die so stark waren, dass neben ihm alle anderen Schüler wie dreiste Ketzer erschienen. Ein-, zweimal flüsterten sich seine Lehrer spätabends zu, dass sie vielleicht doch nicht so lange auf den Messias warten müssten, wie sie gedacht hatten.
    Sie bildeten ihn so schnell wie möglich zum Rabbiner aus. Yehudahs Eltern waren hocherfreut; sie waren arme Bauern und hatten auf alles verzichtet, um ihm eine Ausbildung zu ermöglichen. Das Rabbinat überlegte, wie sie den Jungen einsetzen sollten. Wäre er am besten eingesetzt als Vorstand einer Gemeinde? Oder sollten sie ihn auf die Universität schicken, wo er die nächste Generation unterrichten würde?
    Ein paar Wochen vor seiner Ordination hatte Yehudah Schaalman einen Traum.
    Er ging auf einem steinigen Pfad durch eine graue Wildnis. Weit vor ihm erstreckte sich eine Mauer über den Horizont, die bis in den Himmel ragte. Er war erschöpft, und die Füße taten ihm weh; doch nach einem langen Marsch sah Yehudah am Ende des Wegs eine kleine Öffnung in der Mauer, kaum größer als ein mannshohes Loch. Plötzlich war er von einer merkwürdigen, bangen Freude erfüllt und rannte den Rest des Weges.
    Vor der Öffnung blieb er stehen und spähte hindurch. Was immer sich hinter der Mauer befand, es verschwand im Nebel. Er berührte die Mauer: Sie war so kalt, dass es wehtat. Er drehte sich um und musste feststellen, dass der Nebel den Weg bis zu seinen Füßen verschluckt hatte. In der gesamten Schöpfung gab es nur ihn, die Mauer und die Öffnung darin.
    Yehudah trat hindurch.
    Nebel und Mauer lösten sich auf. Er stand auf einer Wiese. Die Sonne schien und wärmte ihn. Die Luft duftete nach Erde und Pflanzen. Und er war durchdrungen von einem so großen Frieden, wie er ihn nie zuvor empfunden hatte.
    Jenseits der Wiese befand sich ein Wäldchen, goldgrün im Sonnenlicht. Er wusste, dass jemand, den er nicht sehen konnte, in dem Wäldchen auf ihn wartete. Eifrig machte er einen Schritt.
    Sofort verdunkelte sich der Himmel und wurde gewitterschwarz. Yehudah spürte, wie er gepackt und festgehalten wurde.
    In seinem Kopf hörte er eine Stimme:
Du hast hier nichts verloren.
    Wiese und Wäldchen verschwanden. Er wurde losgelassen – er fiel –
    Und dann war er wieder auf dem Weg, auf Händen und Knien, umgeben von Steinen. Diesmal war da keine Mauer oder irgendetwas, was ihm eine Orientierungshilfe gewesen wäre, nur der steinige Weg, der bis zum Horizont durch die verfluchte Landschaft führte und nirgendwo Erholung bot.
    Yehudah Schaalman erwachte im Dunkeln und wusste mit absoluter Gewissheit, dass er verdammt war.
    Als er seinen Lehrern mitteilte, dass er weggehen und kein Rabbiner werden würde, weinten sie, als wäre er gestorben. Sie flehten ihn an zu erklären, warum ein so frommer Schüler seine Berufung aufgeben wollte. Doch er antwortete ihnen nicht, sagte kein Wort von dem Traum aus Angst, dass sie mit ihm argumentieren und ihn weginterpretieren, ihm Geschichten von Dämonen erzählen würden, die die Rechtschaffenen mit falschen Visionen quälten. Er wusste, dass das, was er geträumt hatte, wahr war; er verstand nur nicht
warum.
    Und so gab Yehudah Schaalman sein Studium auf. Er verbrachte schlaflose Nächte damit, sein Gedächtnis zu durchforsten und herauszufinden, welche seiner Sünden ihn der Verdammnis anheimgegeben hatte. Er hatte kein makelloses Leben geführt – er wusste, dass er stolz und übereifrig gewesen war, und als Kind hatte er oft heftig mit seiner Schwester

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