Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Boden und horchte auf das durch die Rohre gurgelnde Wasser, auf Mütter, die ihre Kinder in wütendem Jiddisch ausschimpften, das Klappern von Töpfen und Pfannen, Streitereien, Gebete, das Summen von Nähmaschinen. Vor allem aber hörte sie, wie der Rabbi den Jungen lehrte, seinen Text zu rezitieren, wobei sich seine heisere Stimme mit der piepsigen des Jungen abwechselte. Manchmal sprach sie lautlos mit, bis der Junge ging und sie wieder unter dem Bett hervorkriechen konnte.
Die Nächte waren fast genauso schwierig. Der Rabbi ging um zehn ins Bett und erwachte erst wieder um sechs; der Golem war demnach acht Stunden mit den verschwommenen, träumenden Gedanken der anderen allein. Der Rabbi schlug ihr vor, zum Zeitvertreib zu lesen; und so zog sie eines Nachts einen Band aus dem Regal, schlug ihn an einer zufälligen Stelle auf und las:
… Gekochte Nahrung darf auf einen Herd gestellt werden, der mit Stroh oder Stoppeln befeuert wird. Wenn der Herd mit den Schalen von Mohnsamen oder Holz befeuert wird, darf keine gekochte Nahrung darauf gestellt werden, außer die Glut wurde herausgenommen oder mit Asche bedeckt. Schammais Schüler sagen: Nahrung darf vom Herd genommen, aber nicht darauf gestellt werden. Die Schüler Hillels gestatten es.
Die Lehrer brachten eine Frage vor: »Bedeutet der Ausdruck ›darf nicht darauf gestellt werden‹, dass man sie nicht wieder darauf stellen darf, aber wenn sie nicht heruntergenommen worden ist, darf sie dann darauf stehen bleiben?«
Unsere Antwort besteht aus zwei Teilen …
Sie schlug das Buch zu und starrte auf den ledernen Einband. Waren alle Bücher so? Entmutigt und ein bisschen gereizt, schaute sie den Rest der Nacht aus dem Fenster und sah den Männern und Frauen nach, die vorbeigingen.
Am Morgen erzählte sie dem Rabbi von ihrem Versuch zu lesen. Später ging er aus, um Besorgungen zu machen, und kam mit einem dünnen flachen Paket zurück. Darin befand sich ein schmales Buch mit einem farbenfroh illustrierten Einband. Ein großes Schiff mit Tieren darauf trieb über den Kamm einer gigantischen Welle. Im Hintergrund bildete ein Band aus Farben einen Halbkreis, dessen Spitze die Wolken streifte.
»Das ist ein besserer Anfang, glaube ich«, sagte der Rabbi.
In dieser Nacht lernte der Golem Adam und Eva und Kain und Abel kennen. Sie erfuhr von Noah und der Arche und dem Regenbogen, der das Zeichen für den Bund mit Gott war. Sie las von Abraham, der seinen Sohn Isaak auf dem Berg beinahe geopfert hätte. Sie fand das alles sehr merkwürdig. Die Geschichten waren leicht zu verstehen; aber sie wusste nicht, was sie von den Leuten halten sollte. Hatten sie wirklich existiert oder waren sie erfunden? In den Geschichten hieß es, dass Adam und Noah viele Hundert Jahre alt wurden – aber war das nicht unmöglich? Der Rabbi war der älteste Mensch, den sie in ihrem kurzen Leben kennengelernt hatte, und er war bei weitem noch keine hundert. Hieß das, dass in dem Buch Lügen standen? Aber der Rabbi legte immer so viel Wert auf die Wahrheit! Wenn es Lügengeschichten waren, warum hatte der Rabbi sie dann gebeten, das Buch zu lesen?
Sie las das Buch dreimal und versuchte diese Menschen aus früheren Zeiten zu begreifen. Ihre Beweggründe, Bedürfnisse und Ängste waren offensichtlich, so einfach für sie zu verstehen wie die eines Passanten auf der Straße.
Und Adam und Eva schämten sich und versteckten sich, um ihre Nacktheit zu verbergen. Kain aber wurde eifersüchtig auf seinen Bruder und erhob sich und schlug ihn tot.
Wie anders sie waren als die Menschen in ihrer Umgebung, die ihre Wünsche für sich behielten. Sie erinnerte sich daran, was der Rabbi gesagt hatte: Sie solle einen Menschen nach seinen Taten, nicht nach seinen Gedanken beurteilen. Und wenn man die Menschen in dem Buch nach ihren Taten beurteilte, dann führte die Erfüllung von Wünschen und Begierden meistens zu Verbrechen und Unglück.
Aber war es immer falsch, sich etwas zu wünschen? Was war mit dem hungrigen Jungen, für den sie den Knisch gestohlen hatte? Konnte es falsch sein, sich etwas zu essen zu wünschen, wenn man am Verhungern war? Am anderen Ende des Hausflurs wohnte eine Frau, deren Sohn an einem Ort namens Wyoming als Hausierer arbeitete. Sie lebte in ständiger Erwartung eines Briefes von ihm, irgendeines Zeichens, dass er am Leben und gesund war. Auch das schien richtig und natürlich. Doch woher sollte sie das wissen?
Als der Rabbi sie am Morgen fragte, was sie von dem Buch
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