Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
gestritten und sie an den Haaren gezogen –, aber er hatte alle Gebote nach bestem Wissen und Gewissen befolgt. Und hatte er seine Verfehlungen nicht durch seine guten Taten mehr als ausgeglichen? Er war ein hingebungsvoller Sohn, ein pflichtbewusster Gelehrter! Die klügsten Rabbis seiner Zeit hielten ihn für ein Wunder Gottes! Wenn Yehudah Schaalman der Liebe Gottes nicht würdig war, wer auf der ganzen Welt war es dann?
Gepeinigt von diesen Gedanken packte Schaalman ein paar Bücher und Vorräte ein, verabschiedete sich von seinen weinenden Eltern und machte sich auf den Weg. Er war neunzehn Jahre alt.
Es war keine gute Zeit, um auf Wanderschaft zu sein. Yehudah wusste zwar, dass sein kleines Schtetl im Großherzogtum Posen lag, das seinerseits zum Königreich Preußen gehörte; doch für seine Lehrer waren diese Dinge weltliche Angelegenheiten gewesen und von geringer Bedeutung für ein spirituelles Wunderkind wie Yehudah, weswegen sie sich auch nicht damit aufgehalten hatten. Jetzt lernte er eine andere Wirklichkeit kennen. Er war ein naiver, mittelloser Jude, der kaum Polnisch und kein Deutsch sprach. Seine Studien waren nutzlos gewesen. Auf der Straße lauerten ihm Diebe auf, die ihn wegen seines schmalen Rückens und seines fein geschnittenen Gesichts für einen Kaufmannssohn hielten. Als sie feststellten, dass er nichts hatte, was das Stehlen lohnte, schlugen sie ihn und verfluchten ihn für die Umstände, die er ihnen bereitet hatte. Eines Abends beging er den Fehler und bat in einer wohlhabenden deutschen Siedlung um etwas zu essen; die Bürger ohrfeigten ihn und stießen ihn auf die Straße. Von da an trieb er sich in der Nähe von Bauerndörfern herum, wo er die Leute zumindest manchmal verstehen konnte. Er sehnte sich danach, wieder Jiddisch zu sprechen, mied jedoch die Schtetl, weil er Angst hatte, von Neuem in die Welt gezogen zu werden, aus der er geflüchtet war.
Er verdingte sich als Tagelöhner, bestellte Felder und hütete Schafe, aber die Arbeit lag ihm nicht. Er fand keine Freunde unter seinen Landsleuten, da er ein dünner zerlumpter Jude war, der Polnisch sprach, als würde er sich dabei den Mund schmutzig machen. Oft konnte er dabei gesehen werden, wie er sich auf seinen Spaten stützte oder den Ochsen mit dem Pflug davonziehen ließ, während er über seine Sünden sinnierte. Je öfter er nachdachte, umso mehr schien ihm, als sei sein ganzes Leben eine einzige Aneinanderreihung von Verfehlungen. Stolz, Faulheit, Zorn, Hochmut, Wollust – aller dieser Sünden hatte er sich schuldig gemacht, und er konnte nichts in die Waagschale werfen, was sie ausgeglichen hätte. Seine Seele war wie ein mit spröden Mineralien durchzogener Stein, außen hui, innen pfui. Die Rabbis hatten sich täuschen lassen; nur der Allmächtige kannte die Wahrheit.
Eines heißen Nachmittags, während er wieder einmal grübelte, schalt ihn ein anderer Feldarbeiter der Faulheit; und Yehudah, in düsteren Gedanken versunken, vergaß seine Manieren und reagierte mit einer Antwort, die unverschämter ausfiel, als er beabsichtigt hatte. Augenblicklich stürzte sich der Mann auf ihn. Die anderen bildeten einen Kreis um die beiden und freuten sich, weil der hochmütige Junge endlich seine wohlverdiente Strafe erhielt. Seine Nase blutete in Strömen, er lag flach auf dem Rücken und sah, wie sein Gegner über ihm ausholte, um erneut zuzuschlagen. Hinter ihm ragten die johlenden Männer auf wie ein Dämonenkollegium, das lärmend ein Urteil fällte. In diesem Augenblick verhärteten sich all sein Kummer, sein Groll und sein Selbsthass zu einem harten Knoten aus Wut. Er sprang auf, stürzte sich auf seinen Gegner und schlug ihn zu Boden. Während die anderen entsetzt zuschauten, drosch Yehudah immer wieder gnadenlos auf seinen Kopf ein und wollte ihm gerade ein Auge ausreißen, als ihn endlich jemand packte und wegzerrte. Yehudah wand sich und biss wie rasend zu, bis der Mann ihn losließ. Und dann rannte Yehudah. Die Polizisten verfolgten ihn bis zur Dorfgrenze, aber Yehudah rannte immer weiter. Jetzt besaß er nichts mehr außer den Kleidern, die er auf dem Leib trug.
Er hörte auf, über sein Sündenregister nachzudenken. Die Verdorbenheit seiner Seele war jetzt eine erwiesene Tatsache. Dass er Gefangennahme und Gefängnis hatte vermeiden können, tröstete ihn nicht, denn jetzt begann er über das weitaus bedeutendere Urteil nachzusinnen, das ihn im Jenseits erwartete.
Er nahm keine Feldarbeit mehr an, wanderte von
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