Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Wissen leben konnte, dass sie dort draußen in der Welt war, jenseits seiner Kontrolle.
Er hoffte inbrünstig, dass sie beide die Prüfung bestehen würden, denn ihr derzeitiges Arrangement war schwer durchzuhalten. Sein Gast war anspruchslos, dennoch war ihre ständige Gegenwart ein wenig unheimlich. Er sehnte sich nach dem unverfrorenen Luxus, allein in Unterwäsche am Tisch zu sitzen, Tee zu trinken und die Zeitung zu lesen.
Und noch etwas musste er dringend überdenken. In der untersten Schublade seiner Kommode, versteckt unter seiner Winterkleidung, lag ein Beutel mit Kordelzug, den er in ihrer Jackentasche gefunden hatte. Darin befanden sich die Brieftasche eines Mannes mit ein paar Geldscheinen, eine elegante Taschenuhr aus Silber – das Uhrwerk hoffnungslos verrostet – und ein kleiner Umschlag aus Öltuch. Auf dem Umschlag standen in krakeligen, ungleichmäßigen hebräischen Buchstaben die Worte
Befehle für den Golem.
Er enthielt einen gefalteten quadratischen Zettel, der den Tauchgang zum Ufer glücklicher- oder unglücklicherweise überlebt hatte. Er hatte den Zettel gelesen; er wusste, was darauf stand.
In der Aufregung ihrer Ankunft in New York hatte sie den Beutel offenbar vergessen. Aber er gehörte ihr und war alles, was von ihrem einstigen Meister übrig geblieben war; in ihm regte sich ein vages Schuldgefühl, weil er den Beutel vor ihr versteckte. Andererseits, wenn ein Kind mit einer Pistole in der Tasche auf Ellis Island landen würde, wäre es dann nicht richtig, die Waffe zu konfiszieren? Im Augenblick zumindest war er entschlossen, ihr den Umschlag vorzuenthalten.
Aber er hatte ihn nachdenklich gemacht. Er nahm an, dass es für die missliche Lage des Golems nur zwei Lösungen gab: Er musste sie entweder zerstören oder sein Bestes tun, um sie zu erziehen und zu beschützen. Doch was, wenn es einen dritten Weg gab? Was, wenn er herausfinden könnte, wie man einen lebenden Golem an einen neuen Meister band?
Soweit er wusste, war so etwas nie zuvor getan worden. Und die meisten Bücher – und Köpfe –, die ihm dabei hätten helfen können, existierten längst nicht mehr. Aber er war nicht gewillt, diese Möglichkeit auszuschließen. Im Augenblick wollte er den Golem erziehen, so gut er konnte, bis sie in der Lage wäre, allein zu leben. Und dann würde er sich an die Arbeit machen.
Doch jetzt schob er diese Gedanken beiseite – denn er sah eine vertraute Gestalt auf sich zukommen, groß und aufrecht ging sie achtsam zwischen den anderen Passanten. Auch sie hatte ihn entdeckt und lächelte mit strahlenden Augen. Und er lächelte ebenfalls, ein bisschen benommen von dem großen Stolz, den er bei ihrem Anblick verspürte wie ein bittersüßes Gewicht auf seinem Herzen.
Weit weg auf der anderen Seite des Atlantiks, in der polnischen Stadt Konin, gingen die Menschen wie gewöhnlich ihren Geschäften nach, ohne dass Otto Rotfelds Abreise viel verändert hätte. Die einzig wirkliche Veränderung bestand darin, dass ein Litauer die alte Möbelschreinerei gemietet und zu einem schicken Café umgewandelt hatte; die einhellige Meinung war, dass das Viertel dadurch ungemein gewonnen habe. Nur ein Bewohner Konins dachte häufig an Rotfeld, und das war Yehudah Schaalman, der geschmähte Einsiedler, der dem Mann einen Golem gemacht hatte. Während aus den Wochen Monate wurden und Rotfelds Leiche den Strömungen und dem Meeresgetier überlassen war, saß Schaalman abends an seinem Tisch, trank ein Glas Schnaps und dachte an den unsympathischen jungen Mann. Ob er wohl erfolgreich war in Amerika? Und ob er seine Braut aus Lehm zum Leben erweckt hatte?
Yehudah Schaalman war dreiundneunzig Jahre alt. Das war nicht allgemein bekannt, denn er sah aus und hielt sich wie ein Siebzigjähriger, und wenn er wollte, konnte er noch jünger wirken. So alt geworden war er mit Hilfe verbotener und gefährlicher Künste und dank seiner beträchtlichen Intelligenz sowie einer Angst vor dem Tod, die alles andere in den Schatten stellte. Er wusste, dass ihn eines Tages der Todesengel holen und vor die Bücher des Lebens und des Todes führen würde, wo er sich die Aufzählung seiner Verfehlungen anhören müsste. Dann würde das Tor sich öffnen, und er würde in die Feuer der Gehenna gestoßen und dort so lange und auf eine Weise bestraft, wie es seinen Verfehlungen entspräche. Und seine Verfehlungen waren viele und vielfältig.
Wenn er nicht gerade dummen Mädchen aus dem Dorf Liebeszaubermittel oder
Weitere Kostenlose Bücher