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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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rissen und bewegten dabei Vorder- und Hinterpfoten. Nach diesen Experimenten hatte er damit aufgehört. Es war zwar einigermaßen amüsant, aber danach, während er wieder seine gestaltlose Gestalt annahm und er selbst wurde, war er verwirrt und desorientiert.
    Er hatte nie versucht, in den Kopf eines Menschen einzudringen. Es hieß, die Träume von Menschen seien glitschig und gefährlich, voller wandelbarer Landschaften, die einen Dschinn in die Falle locken und festhalten konnten. Ein Hexer, warnten die Alten, konnte einen Dschinn im Kopf gefangen nehmen, ihn in ein Traumlabyrinth locken und zu Knechtschaft zwingen. Aus ihrem Mund klang es wie eine tolldreiste Verrücktheit, auch nur daran zu denken. Wahrscheinlich hatten sie die Gefahren übertrieben, aber er hatte sich an ihren Rat gehalten.
    Hätte er es riskiert, wenn er gewusst hätte, dass er diese Fähigkeit verlieren würde? Vielleicht. Aber er bezweifelte, dass er groß von der Erfahrung profitiert hätte. Und in gewisser Weise, so dachte er, als er mehr Lötzinn abmaß, machte es nichts aus. Er verbrachte jetzt mehr Zeit als genug mit Menschen, um den Verlust auszugleichen.

    In der syrischen Wüste versickerte der letzte Frühlingsregen in der Landschaft. Zwischen den Felsen und Disteln entfalteten sich zarte Blüten und tupften die Täler weiß und gelb.
    Der Dschinn flog über das Tal und erfreute sich an dem Anblick. Der Regen hatte den Staub von seinem Palast gewaschen, und jetzt funkelte jeder Zentimeter. Hatte er wirklich daran gedacht, das alles zurückzulassen und zur Siedlung der Dschinn zurückzukehren? Wozu denn? Das hier war sein Reich: sein Palast und sein Tal, die warme Frühlingssonne und die blühenden Blumen.
    Doch seine Gedanken eilten ihm bereits voraus zu seiner nächsten Begegnung mit Menschen. Nicht weit entfernt befand sich ein Beduinenlager, er hatte aus der Ferne die Schafherden und den Feuerschein gesehen und auch Männer, die auf Pferden ritten. Doch bislang hatte er sie gemieden. Er fragte sich, inwiefern sich ihr Leben von dem der Männer aus den Karawanen unterschied. Waren die Männer wirklich so edelmütig und die Frauen so tugendsam? Statt einer weiteren Karawane zu folgen, sollte er sich vielleicht einmal ihr Lager ansehen. Aber musste er sich wirklich damit zufriedengeben, sie aus der Ferne zu beobachten, wenn er eine viel intimere Möglichkeit hatte?
    Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Als wäre sie von seinen Gedanken angezogen worden, war ein junges Beduinenmädchen am Rand des Grats über dem Tal aufgetaucht. Abgesehen von einer kleinen Ziegenherde war es allein und schritt mit einer Energie den Grat entlang, die zu dem frischen Tag passte.
    Der Dschinn hatte eine Idee. Er flog hinunter auf die Zinnen seines Palastes, streckte die Hand aus und berührte das weißlich blaue Glas.
    Das Mädchen blieb erstaunt stehen, als der Palast des Dschinns einen Augenblick lang glitzernd vor ihm Gestalt annahm.
    Der Dschinn sah zu, wie das Mädchen aufgeregt den Weg zurücklief, den es gekommen war, und die Ziegen vor sich her trieb. Er lächelte und fragte sich, wovon so ein Mädchen wohl träumte.

Kapitel  4
    L angsam, im Lauf von Tagen und Wochen, lernten der Golem und Rabbi Meyer, miteinander auszukommen.
    Es war nicht einfach. Die Wohnung war klein und vollgestopft, und der Rabbi hatte sich an seine Einsamkeit gewöhnt. Nicht, dass das Zusammenleben auf Tuchfühlung mit einer Fremden eine neue Erfahrung für ihn gewesen wäre – als er nach Amerika gekommen war, hatte er auf weniger Raum mit einer fünfköpfigen Familie zusammengewohnt. Aber damals war er jünger und anpassungsfähiger gewesen. In den letzten Jahren war die Einsamkeit zu seinem einzigen Luxus geworden.
    Wie er vorhergesehen hatte, spürte der Golem rasch sein Unbehagen. Bald schon entwickelte sie die Gewohnheit, sich ans andere Ende der Wohnung zurückzuziehen, als wollte sie gehen, ohne zu gehen. Schließlich sprach er sie darauf an und sagte, dass sie das Zimmer nicht verlassen sollte, nur weil er hereinkam.
    »Aber das wollen Sie doch«, protestierte sie.
    »Ja, aber gegen meinen eigenen Willen. Mein besseres Selbst weiß, dass Sie sitzen oder stehen können, wo immer Sie wollen. Sie müssen lernen, sich nach dem zu richten, was die Leute sagen oder tun, nicht nach dem, was sie sich wünschen oder wovor sie sich fürchten. Sie haben einen außergewöhnlichen Einblick in die Seele anderer Menschen und werden viele hässliche und unangenehme

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